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Rezension

Daily Rituals: Lob der Routine

In Mason Curreya “Daily Rituals” findet sich der eine oder andere Hinweis, wie man sich selbst eine Struktur geben kann, wenn man auf sich allein gestellt ist und nicht den Takt durch eine Organisation vorgegeben bekommt

Man muss es ja nicht gleich so treiben wie der britische Lyriker W. H. Auden, der den Tag mit Amphetaminen begann und ihn mit Sedativa beendete. Sein berühmter Funeral Blues dokumentiert die ungeheure Kreativität des Menschen, der in der Lage ist, alle Grenzen zu sprengen und dem Gefühl eine Expressivität zu verleihen, die bei der bloßen Lektüre schon beschleunigt wie eine Droge. Aber sich einmal genau anzuschauen, wie die Künstlerinnen und Künstler mit der Diskrepanz eines profanen irdischen Daseins und der explosiven Kreativität umgingen, bringt nützliche Erkenntnisse.

Daily Rituals von Mason Currey

Mason Currey hat sich in seinem Buch “Daily Rituals. How Great Minds Make Time, Find Inspiration, and Get to Work” die täglichen Routinen bekannter, kreativer Menschen näher betrachtet. Die Lektüre ist nicht nur unterhaltsam, sie bringt auch Erkenntnisse.


Mason Currey. Daily Rituals. How Great Minds Make Time, Find Inspiration, and Get to Work (Quelle: YouTube/Gerhard Mersmann)

Was sich in dem einen oder anderen Fall schrill anhört, hat dennoch System. Benjamin Franklin begann den Tag nackt mit einem Luftbad, Toulouse-Lautrec malte in Freudenhäusern, Edith Sitwell arbeitete ausschließlich im Bett, George Gershwin komponierte grundsätzlich nur am Klavier im Pyjama, Freud tat es nicht unter einem Arbeitspensum von 16 Stunden am Tag, Gertrude Stein hingegen beschränkte sich auf 30 Minuten täglich, und F. Scott Fitzgerald schrieb nur nach ausreichendem Gin-Konsum.

Diese Angaben entsprechen dem Bild, das viele Menschen von den Exoten haben, die auf dem Feld der Kreativität tätig sind. Und, um des Verkaufs Willen sind es auch diese Beispiele, die den Klappentext schmücken.

Konsequenz bis zur Selbstaufgabe

Aber hinter der genial-exotischen Attitüde verbergen sich zumeist auch harte Arbeit und eine klare Struktur. Bei der Lektüre wird deutlich, wie viele der Aufgeführten einem sehr detailliert konzipierten Tagesablauf folgten: Aufstehen, wach werden, sich präparieren, die Gedanken kreisen lassen, aber pünktlich am Ort der Arbeit präsent sein, in einem bestimmten Kontingent an Stunden konzentriert zu Werke gehen, Mittagspause, Spaziergang, Korrespondenz, Lektüre, Sozialkontakte beim Abendessen und dann noch mal für einige Stunden ins Studio, um wieder zu arbeiten.

Meistens sind es Arbeitstage, die 16 und mehr Stunden umfassen und die alles andere sind als das eruptive Absondern irgendwelcher genialen Ideen. Ein Großteil ist Handwerk, das bis ins Detail beherrscht wird, es ist Disziplin, die sonst nur im Militär denkbar ist und es ist Konsequenz bis zur Selbstaufgabe.

Insofern ist Mason Curreys Buch ein wichtiger Beitrag, um auch denen, die nicht in dem Metier des künstlerischen Schaffens leben, einen Eindruck davon zu vermitteln, was es heißt, wenn Künstlerinnen und Künstler von harter Arbeit sprechen. Kolportiert werden in der Regel die schillernden Figuren, die allzu oft existenziell in jungen Jahren scheitern. Die harte Arbeit, die die künstlerische Produktion bedeutet, findet im Verborgenen jenseits der Öffentlichkeit statt. Aber dort wird sie unerbittlich absolviert.

Das Sortiment der Askese

Und um die Lektüre nicht nur auf diese Erkenntnis zu beschränken, gibt es den einen oder anderen Hinweis, wie man sich selbst eine Struktur geben kann, wenn man auf sich allein gestellt ist und nicht den Takt durch eine Organisation vorgegeben bekommt.

In den Zeiten der Individualisierung, in der wir leben, ein aufschlussreicher Aspekt.

Das Einzige, was auch bei den härtesten Arbeitern, von denen in dem Buch die Rede ist, nie zu dem Sortiment der Askese gehört und dem nahezu alle frönten, sind Unmengen Kaffee. Das stößt auf großes Verständnis oder?


Informationen zum Buch

Daily Rituals: How Great Minds Make Time, Find Inspiration, and Get to Work

Mason Currey ist Autor der “Daily Rituals”-Bücher, die Kurzprofile aus dem Arbeitsleben von über 300 großen kreativen Persönlichkeiten enthalten. Zurzeit arbeitet er an einem neuen Sachbuch und schreibt “Subtle Maneuvers”, einen wöchentlichen Newsletter über das Durchlavieren durch ein kreatives Leben. Er lebt in Los Angeles. Mehr Informationen finden sich auf seiner Webseite.

Daily Rituals: How Great Minds Make Time, Find Inspiration, and Get to Work


Autor: Mason Currey

Genre: Sachbuch

Seiten: 278

Erscheinung: 2013

ISBN-13: 978-0-33-051249-7


Foto und Video: Kelly Sikkema (Unsplash.com) und Gerhard Mersmann

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Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

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