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Meinung

Schreibt es an jede Wand: “Wir müssen hier raus!”

Die Welt wartet nicht darauf, von Deutschland beglückt zu werden. Im günstigen Fall wird sie anbieten, einen Teil dazu beitragen zu können, vieles zum Besseren zu wenden. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Man kann es sich auch einfach machen. Die eigene Existenz, so wichtig sie auch sein mag, ist nichts, solange sie nur für sich steht. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Dass dem so ist, sehen momentan viele, die seit Monaten durch die pandemisch begründete Isolation auf sich gestellt sind. Da tauchen Phänomene auf, die bis dato für viele Menschen unbekannt waren und als eine neue Entdeckung bestürzt zur Kenntnis genommen werden. Da macht sich bemerkbar, wie wichtig der soziale Austausch ist.

Oft beginnt es mir einem zunehmenden Kraftaufwand, um die Tagesroutinen zu erledigen. Die Monotonie übermannt viele, sie werden lethargisch, die anfänglich gefeierten Videokonferenzen werden immer weniger, weil selbst die nicht das ersetzen, was als die eigentliche Normalität gilt.

Sollte virtuelle Kommunikation zustande kommen, stellt man fest, dass der Gesprächsstoff ausgeht. Irgendwie fehlen die Worte, um noch etwas zu sagen, und immer mehr fehlt auch das Motiv, sich mitzuteilen. Die Erkenntnis, die sich aufdrängt, ist die, dass zum Menschsein mehr gehört als die Versorgung mit Lebensgütern und die technische Möglichkeit der Kommunikation.

“Wir müssen hier raus!”

Sollte virtuelle Kommunikation zustande kommen, stellt man fest, dass der Gesprächsstoff ausgeht. Irgendwie fehlen die Worte, um noch etwas zu sagen, und immer mehr fehlt auch das Motiv, sich mitzuteilen. Die Erkenntnis, die sich aufdrängt, ist die, dass zum Menschsein mehr gehört als die Versorgung mit Lebensgütern und die technische Möglichkeit der Kommunikation.

“Wir müssen hier raus!” hieß ein Politsong längst vergangener Zeiten, der sich dennoch sehr gut eignen würde, um das gegenwärtige Lebensgefühl treffend zu beschreiben (1).

Normalerweise ist das, was die einzelne Existenz beschreibt, auch immer zutreffend für das gesellschaftliche Dasein. Nur, und das ist eine weitere Erkenntnis, ist die Weise in der gegenwärtigen Zeit alles andere als normal. Denn schaut man auf das, wie momentan das Dasein reflektiert wird, kommt man zu dem Schluss, dass der Isolationismus regelrecht zelebriert wird.

Abseits der tatsächlichen Verhältnisse

Dass der Fokus auf den Zuständen im eigenen Land liegt, ist zunächst naheliegend. Denn wer wollte nicht wissen, ob und/oder wie lange die zunehmend depressive Atmosphäre noch vorherrscht? Sich darauf jedoch zu beschränken und die Zeit regelrecht zu nutzen, um das Bild zu vermitteln, wir markierten hier, irgendwo im Zentrum Europas, gleichzeitig den Mittelpunkt der Welt, ist eine verhängnisvolle Sichtweise.

Zwar werden täglich Ereignisse aus allen Teilen der Welt gemeldet, jedoch stets mit einer eindeutigen Einschätzung, die sich nicht auf den Versuch stützt, zunächst einmal ein genaues Bild von dem zu bekommen, was sich dort eigentlich ereignet, sondern immer mit Appellen oder Ratschlägen verbunden, die den eigenen Maßstäben entsprechen.

Das führt zu einer Art Hype, der die Illusion nährt, man habe alles im Griff und müsse sich nicht mehr die Arbeit machen, das Wesen dessen, um was es geht, erst einmal zu erfassen. Und, um diagnostisch zu werden, dieses Verhalten entspricht einer Behäbigkeit, die der Lethargie entspringt und suggeriert, man sei Herr der Lage. Tatsächlich aber handelt es sich um eine gefährliche Art der Selbstüberschätzung, die einer Illusion entspringt, die mit den tatsächlichen Verhältnissen kaum noch etwas zu tun hat.

Spiel mit dem Feuer

Der Gestus, in der Lage zu sein, die Welt retten zu können, mag die einzelne Akteure in gewisser Weise beruhigen. Diesen Gestus als politisch richtungsweisend und als klug zu betrachten, ist ein Spiel mit dem Feuer.

Weise wäre es, der existenziellen Erfahrung zu folgen, dass nur die direkte Interaktion mit dem Rest der Welt dazu führen kann, ein realistisches Bild von den Zuständen zu erhalten. Und dann wird die Erkenntnis am Horizont auftauchen, dass die Welt nicht darauf wartet, von uns beglückt zu werden. Im günstigen Fall wird sie uns anbieten, einen Teil dazu beitragen zu können, vieles zum Besseren zu wenden. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.


Quellen und Anmerkungen

(1) Der Politsong “Wir müssen hier raus” ist der erste Titel auf der 1972 veröffentlichten LP “Keine Macht für Niemand” der Rockgruppe Ton Steine Scherben. Ihr Mitbegründer und Sänger Ralph Möbius wurde unter dem Künstlernahmen Rio Reiser bekannt. Die Aussage „Keine Macht für Niemand“ wird bis in die Gegenwart von anarchistischen, autonomen und alternativen Gruppierungen genutzt. Gemäß der Aufforderung im Text „Schreibt die Parole an jede Wand“ findet sie sich als Graffiti auf Häuserwänden.


Foto: Orit Matee (Unsplash.com)

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Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

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