Wer moderne Staaten und deren Herrschaftssysteme verstehen will, der sollte sich nicht nur kritische Fragen über die offenkundigen Mängel stellen, sondern sich mit dem ideologischen Kern von Institutionen auseinandersetzen, die ein Herrschaftssystem gegen Veränderungen absichern, sofern diese nicht zu einer weiteren Stabilisierung des bestehenden Systems führen. Das berüchtigte “Weiter so” ist daher auch keine Einmaligkeit, sondern in jedem Herrschaftssystem fest verankert.
Institutionen sind Ordnungs- und Regelsysteme, die das soziale Verhalten und das Handeln von Individuen, aber auch von Gruppen und ganzen Gemeinschaften formen. Sie lenken und stabilisieren das Verhalten derartig, dass es auf politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene erwartbar, berechenbar und somit steuerbar wird. Der genormte Mensch ist in den “modernen Demokratien” westlicher Prägung in sofern keine Utopie, die erst durch die digitale Revolution in der vernetzten Welt vollendet wird oder die aus China importiert werden müsste. Er ist durchaus real und in der Tat auch erwünscht.
Augenscheinlich stellt jede Handlung, die sich der Lenkung durch Institutionen entzieht beziehungsweise von den “Regeln” abweicht, eine Art Widerstand da. Dem ist auch so, allerdings wird die Abweichung von der verordneten Linie bis zu einem gewissen Grad zwingend benötigt, damit die Ordnungs- und Regelsysteme “eingreifen” können, um dadurch ihre Notwendigkeit und somit ihre Existenz zu legitimieren. Treiben wir es auf die Spitze: Man stelle sich eine Gesellschaft vor, in der sich jeder an “die Regeln” hält. Justiz, Polizei und Gefängnisse würden überflüssig. Aber was sollten die Leute, die davon leben, andere Menschen einzusperren, dann tun?
Eingeschlossen
Der italienische Insurrektionalist Alfredo Maria Bonanno war im Gefängnis. Er hat seine Gedanken über diese Institution in 1990er-Jahren niedergeschrieben. Im Vorwort zur Schrift “Eingeschlossen – Gedanken über das Gefängnis”, aus dem wir die ‘Einleitende Notiz’ veröffentlichen, heißt es:
“(…) Dies ist nicht bloß ein Buch über das Gefängnis. Es ist vor allem auch ein Buch über eine Art und Weise, den Kampf gegen die Institutionen der Unterdrückung anzugehen. Die Schrecken, die von einer Gesellschaft hervorgebracht werden, die auf der Herrschaft des Menschen über den Menschen basiert – und davon ist das Gefängnis sicherlich einer der offenkundigsten –, können nicht beseitigt werden, ohne ihr Fundament zu beseitigten, beziehungsweise, falls dies geschehen sollte, wird es im Sinne des demokratischen und anpassungsfähigen Staates zugunsten einer Rationalisierung und einer Stärkung von eben diesem Fundament geschehen. Dasselbe ist beispielsweise mit den ökologischen Kämpfen geschehen, die sich darauf beschränkten, die Verwüstungen und die Atomkraft beseitigen zu wollen, ohne ihr soziales Fundament anzutasten, und die dadurch das Aufkommen eines grüneren, vernünftigeren und somit besser vor einer Infragestellung geschützten Herrschaftssystems förderten. Dasselbe gilt auch für die Frage des Gefängnisses.”
Gefängnisse, in denen Menschen von anderen Menschen eingesperrt werden, gehören also nur scheinbar zu den “unverzichtbaren” Institutionen. Das ist die erste oberflächliche Beobachtung. Aber was ist ein Gefängnis noch? Gemeint ist nicht etwa die Ökonomie hinter Gittern, wie sie sich in den USA zeigt, wo Gerichte Häftlinge förmlich “produzieren”, um sie der Gefängnisindustrie zur Verwertung zuzuführen. Was ist der ideologische Zweck von Gefängnis?
Einleitende Notiz
Das Gefängnis ist die tragende Struktur der Gesellschaft, in der wir leben. Oft scheint es nicht so, aber so ist es.
Eine fortschrittliche, erzieherische, permissive Gesellschaft, eine Gesellschaft, die sich von aufgeklärten Politikern führen lässt, die gegen jeglichen Einsatz der harten Manier sind, eine Gesellschaft, die schockiert auf die mehr oder weniger weit entfernten Massaker blickt, welche die Landkarte der Welt übersäen, diese Gesellschaft, die von so vielen anständigen Bürgern bewohnt scheint, die nur darauf bedacht sind, dem Grün nicht zu schaden und möglichst wenig Steuern zu bezahlen, diese selbe Gesellschaft, die sich fern von der Barbarei und vom Schrecken glaubt, hat das Gefängnis vor der Tür.
Nun, die reine Existenz eines Ortes, an dem Männer und Frauen in entsprechend eingerichteten stählernen Käfigen eingesperrt gehalten werden, unter der Aufsicht von anderen Männern und anderen Frauen, die einen Schlüssel in der Hand halten, eines Ortes, an dem Menschen Jahre für Jahre ihres Lebens verbringen und nichts tun, absolut nichts tun, ist das höchste Zeichen der Schändlichkeit nicht nur für diese Gesellschaft, sondern für eine ganze historische Epoche.
Ich schreibe diese ‘Einleitende Notiz’ im Gefängnis von Rebibbia und ich verspüre kein Bedürfnis, irgendwas an dem Vortrag zu ändern, den ich vor einigen Jahren in Bologna hielt. Denn, wenn ich die heutige Stumpfheit der Gefängnisinstitutionen mit meinen vergangenen Erfahrungen vergleiche, die ich teilweise im hier publizierten Text beschrieb, hat sich nichts verändert.
Nichts konnte sich verändern. Das Gefängnis ist eine Eiterbeule, welche die Gesellschaft erfolglos zu verstecken versucht. Wie die Mediziner des 17. Jahrhunderts, die die Pest behandelten, indem sie Salben auf die Beulen strichen, aber die Ratten weiterhin zwischen den Abfällen tummeln ließen, so versuchen unsere Fachleute von heute, auf allen Ebenen der Gefängnishierarchie, Schambedeckungen aufzustellen, um diesen oder jenen grausameren Aspekt vom Gefängnis zu verbergen, ohne zu überlegen, dass die einzige Möglichkeit, das Gefängnis anzugehen, darin besteht, es zu zerstören.
Es zu zerstören, ohne dass ein Stein davon auf dem anderen bleibt, und nicht, wie es die Menschheit manchmal mit den Gebäuden tat, welche die grausamsten Schändlichkeiten in ihrer Geschichte kennzeichneten, einige Ruinen der ewigen Erinnerung überlassend.
Aber wer es gewohnt ist, in der Tenne zu schnattern, fragt sich oft: Ist es denn möglich, das Gefängnis zu zerstören? Ist es denn möglich, es vollständig zum Verschwinden zu bringen, in einer Gesellschaft wie der unsrigen, in der eine Bande von Herrschenden namens Staat für alle entscheidet und diese Entscheidungen mit Gewalt aufzwingt?
Und so versuchen die Besten unter den Schnatterern, sprich die Gutherzigsten und Geistesgewandtesten, die Leiden der Gefangenen zu lindem, indem sie ihnen einmal pro Woche Kino, einen Farbfernseher, eine fast schon anständige Verpflegung, eine Besuchsstunde pro Woche, die Hoffnung, vor dem Tag des eigentlichen Strafendes herauszukommen, und all den Rest geben.
Natürlich, diese braven Leute wollen im Gegenzug dafür etwas. Letzten Endes handelt es sich um nicht viel. Sie wollen, dass sich die Gefangenen gut benehmen, dass sie sich gegenüber den Aufsichtsbeamten respektvoll verhalten, eine ausreichende Fähigkeit erlangen, Jahren der Untätigkeit und der sexuellen Enthaltung standzuhalten, sich von spezialisiertem Personal einer psychologischen Behandlung unterziehen lassen und in mehr oder weniger verschleierter Form erklären, erlöst und in der Lage zu sein, in die Gesellschaft zurückzukehren, die sie aufgrund ihres schlechten Verhaltens ausgestoßen hat.
Ich, der das Gefängnis seit mehr als einem Vierteljahrhundert frequentiere, kann einen kleinen Vergleich anstellen. Einst lebte der Gefangene wortwörtlich in einem schändlichen und verseuchten Loch, das von Mäusen und verschiedensten Tieren besucht wurde, er sah das Tageslicht nur für wenige Minuten, hatte keinen Fernseher und konnte sich auch keinen Kaffee in der Zelle machen. Heute hat sich die Situation zweifellos verbessert.
In Italien kann sich der Gefangene regelrechte Mahlzeiten in der Zelle zubereiten, selbst mit Dessert, er hat mehr Stunden Hofgang pro Tag, als er früher in einem Monat hatte, kann zusätzliche Besuchsstunden haben, einige Telefonate mit seinen Familienangehörigen machen, für einen anständigen Lohn arbeiten (die Hälfte von dem eines durchschnittlichen Arbeiters draußen), den Farbfernseher, den Kühlschrank, die Dusche und den ganzen Rest gemessen, der sich in fast allen Gefängnissen am Verbreiten ist.
Aber kann er sagen, dass es ihm besser geht als früher? Zweifellos kann er das sagen. Doch am Abend, wenn sich die zarteste Stunde des Tages nähert, wenn sein Herz gerne woanders wäre, bei den nunmehr verlorenen Empfindungen und Zuneigungen, wenn er den Schlüssel der Schande im Türschloss der Zelle quietschen hört, dann ist seine Bedingung noch immer dieselbe. Und der Schrecken, der von einer solchen Bedingung ausgeht, von einem menschlichen Wesen, das in einer Zelle eingeschlossen ist, gezwungen, sich ohne Antwort über den Sinn des Lebens zu fragen, fällt dieser Schrecken nicht auf die ganze Gesellschaft zurück? Ist es möglich, dass die ultra-realistischen Schnatterer das nicht bemerkt haben?
Die Gefangenen akzeptieren diese Verbesserungen natürlich, sie sind ja nicht blöd, und es ist recht, dass sie das tun, und sie akzeptieren es, die Gegenleistung zu erbringen, sich brav und entgegenkommend zu zeigen, möglichst wenig mit den Wärtern zu streiten und den Erziehern und Psychologen Märchen zu erzählen, die wie Schatten in den Gängen umherziehen, während sie auf die Stunde warten, um wieder nach Hause zu gehen, und auf das Monatsende, um den Lohn einzukassieren.
Abgesehen von der offensichtlichen Tatsache, dass das Konfrontationslevel im Gefängnis gesunken ist, glaubt hier niemand an eine Wiedereingliederung des Gefangenen in die sogenannte Zivilgesellschaft, weder die Unterwerfenden, noch die Unterworfenen. Es ist eine Commedia dell’Arte (1) die jeder prächtigst ohne Regie aufführt.
Nehmen wir zum Beispiel den Priester. Er weiß ganz genau, wenn er kein Dummkopf ist, dass alle Häftlinge, die zur Messe kommen, dahin kommen, um sich mit anderen Häftlingen aus anderen Flügeln zu treffen, welche sie ansonsten nicht sehen können. Und doch akzeptiert er die Realität mit der Heuchelei seines Berufs und fristet er sein Dasein. Sicher, ab und zu gibt es einen Häftling, der einen urplötzlichen Glauben, eine Erleuchtung auf dem Weg nach Damaskus zeigt, aber der Priester weiß ganz genau, dass das zweckdienlich für die Behandlung ist, um in den offenen Vollzug zu kommen oder um eine Aussetzung der Strafe auf Bewährung oder einen anderen der hundert Vorteile zu erhalten, die vom Gesetz vorgesehen, aber der Entscheidung des Wachpersonals, der Erzieher, der Psychologen und sogar des Priesters unterstellt sind.
Was draußen in Bezug auf den Bullen eine Klarheit war, ist hier drinnen verworren geworden. Die Gefangenen von heute sind in ihrer beinahe Gesamtheit dabei, ihre Identität als Gefangene zu verlieren, eine permissive und possibilistische Veränderung (Anm. d. Red.: Der Possibilismus (das Gegenteil von Determinismus) beschreibt die Ansicht, dass der Mensch in seinen Entscheidungsprozessen frei von der Natur sei.) zu akzeptieren, die sie Stück für Stück in einen Mechanismus einverleibt, der weniger verspricht, sie zu erlösen, als vielmehr sie etwas vor ihrem Strafende herauszulassen.
Wie der aufmerksame Leser dieses Büchleins wird sehen können, gibt es eine Denkströmung, die sich damit rühmt, das Gefängnis “abschaffen” zu wollen. Nun, abschaffen bedeutet ablaktieren, sprich, eine wesentliche Komponente der Gesellschaft, das Gefängnis, aus ihr entfernen. Wenn die Gesellschaft gelassen wird, wie sie ist, ist diese Abschaffung unmöglich, oder, falls sie sich in Gang setzen sollte, müsste sie sich der Herrschaft als nützlich erweisen.
Versuchen wir, auf diesen Punkt etwas genauer einzugehen. Die einzige Möglichkeit, ernsthaft etwas gegen das Gefängnis zu unternehmen, besteht darin, es zu zerstören. Das ist nicht absurder und auch nicht utopischer als die These, die es gerne abschaffen will.
Der Staat, für welchen das Gefängnis essenziell ist, würde, sowohl im Falle der Zerstörung wie im Falle der Abschaffung, zu extremen Maßnahmen greifen. Doch spezifische Umstände von revolutionärem Charakter könnten die Zerstörung des Gefängnisses möglich machen, könnten in der sozialen und politischen Realität derartige Erschütterungen hervorrufen, dass diese Utopie, aufgrund des plötzlichen oder zunehmenden Mangels an Mächten, die imstande sind, die Existenz des Gefängnisses durchzusetzen, Realität wird.
Im Falle der Abschaffung, wenn sie sich stufenweise in Gang setzt, bedeutet das, dass sich der Staat auf eine andere Weise um das Problem des Gefängnisses zu kümmern gedenkt. Tatsächlich ist sich etwas in diese Richtung am bewegen.
Wie ich in dem Text, der folgt, aufzeige, ist eine große Öffnung des Gefängnisses im Gange – die externen politischen Kräfte, die früher draußen abgeschnitten wurden, werden heute mit tausend Tricks ins Gefängnis geholt, es gibt kulturelle Initiativen aller Art (Kino, Theater, Malerei, Poesie, kurzum alle Bereiche der Kultur sind am Werk). Diese Öffnung fordert eine Partizipation der Häftlinge.
Partizipieren scheint auf den ersten Blick zu bedeuten, die Ungleichheiten zu beseitigen, allen eine Ebene von Gleichheit zu ermöglichen, zu verhindern, dass man abgeschottet in der Zelle bleibt, miteinander zu reden, seine Rechte spüren zu lassen. Und das stimmt, und in diese Richtung wurde das “alte” Gefängnis durch das “neue” ersetzt. Aber nicht alle Häftlinge sind bereit, sich zu beteiligen. Einige haben ihre Würde als “Gesetzlose” und wollen nicht enteignet werden, wollen sich also nicht beteiligen.
Ich bin hier nicht dabei, wieder die alte Unterscheidung zwischen “politischen” Gefangenen und “gewöhnlichen” Gefangenen vorzuschlagen, die mich absolut noch nie überzeugt hat. Persönlich habe ich das Etikett des “politischen” Gefangenen immer abgelehnt – und das tue ich noch heute in dem Gefängnis, wo ich diese ‘Einleitende Notiz’ schreibe –, sondern ich beziehe mich auf die “Gesetzlosen”, das heißt auf jene, die ein Leben haben, das völlig einem Leben gegen die oder jenseits der Bedingungen gewidmet ist, die vom Gesetz festgelegt werden.
Es ist klar, dass sich das Gefängnis, wenn es sich auf der einen Seite für einige Häftlinge öffnet, die bereit sind, zu partizipieren, gegenüber denjenigen verschließt, die auch im Gefängnis “Gesetzlose” bleiben wollen und nicht bereit sind, zu partizipieren.
Wenn man zu dieser Trennung die Erhöhung der Kontrolle in der Gesellschaft, das Aufkommen der telematischen Möglichkeiten, die Zentralisierung der Sicherheits- und Polizeidienste zumindest auf europäischer Ebene hinzufügt, gelangt man zur Schlussfolgerung, dass in einer mehr oder weniger baldigen Zukunft jene, die gegen das Gesetz verstoßen, nur noch jene sein werden, die wirklich die absolute Entschlossenheit eines Gesetzlosen haben.
Man kann also schlussfolgern, dass das Projekt der neuen Herrschaft darin besteht, das traditionelle Gefängnis abzuschaffen, indem es dieses der Partizipation öffnet, aber zur gleichen Zeit eine neue Art von Gefängnis zu schaffen, das völlig geschlossen ist, ein Gefängnis mit Weißkitteln, worin die wahren Gesetzlosen ihre Tage fristen.
Dies ist das Gefängnis der Zukunft, und die Theoretiker der Abschaffung des Gefängnisses werden zufriedengestellt sein, denn die Gefängnisse mit Weißkitteln könnten in Zukunft nicht mehr diesen hässlichen Namen tragen, sondern zu Kliniken für Geisteskranke werden. Denn jemand, der sich entgegen jedem Partizipationsvorschlag der Macht auf die Rebellion und auf die Bekräftigung seiner Identität als “Gesetzloser” versteift, ist der etwa nicht ein Verrückter? Und die Verrückten, stellen sie etwa nicht vielmehr ein medizinisches als ein strafrechtliches Problem dar?
Eine solche Gesellschaft, stärker in Sachen soziale und politische Kontrollfähigkeit, würde alle dazu aufrufen, an diesem repressiven Projekt mitzuarbeiten, und daher weniger Bedarf daran haben, auf Verurteilungen zurückzugreifen. Das Konzept selbst von Strafe könnte revidiert werden. Im Grunde besteht heute der Großteil der Gefängnisbevölkerung aus Personen, die Delikte begingen, die von einem Moment auf den anderen keine mehr sein könnten: der Konsum von Rauschmitteln, der Handel mit diesen, kleine Diebstähle, administrative Delikte usw.
Wenn man diese Personen aus dem Gefängnis entfernt und die Möglichkeiten für ernsthaftere Delikte wie beispielsweise Raubüberfälle und Entführungen reduziert, die mit einer Kontrolle des Territoriums wie jener, die in Planung ist, praktisch unmöglich werden würden, so bleiben nur noch wenige wirkliche Delikte übrig.
Diejenigen von affektiver Natur könnten ganz gut, und dies ist auch die Absicht, mit der Anwendung der Domizilhaft kontrolliert werden. Und dann, unter diesen Bedingungen, wer bliebe im Gefängnis noch übrig? Jene paar Tausend Individuen, die dieses Projekt nicht akzeptieren wollen, die eine solche Gesellschaft verabscheuen, die es verabscheuen, zu gehorchen und über sich ergehen zu lassen, kurzum: die Rebellen, die sich bewusst darüber sind, solche zu sein, und die weiterhin angreifen werden, vielleicht entgegen jeglicher Logik, und gegenüber denen es möglich sein wird, jene spezifischen Haft- und “Pflege”-Bedingungen anzuwenden, die jenen einer Irrenanstalt näher sind als jenen eines wirklichen Gefängnisses.
Dies ist, wenn wir die logischen Prämissen schließen, wo die These der Abschaffung vom Gefängnis hinführt. Der Staat könnte in Zukunft zu den Anhängern dieser These gehören.
Das Gefängnis ist der brutalste und unmittelbarste Ausdruck der Macht, und da die Macht zerstört werden muss, kann es nicht stufenweise abgeschafft werden. Wer gedenkt, es verbessern zu können, um es dann zu zerstören, wird ewig sein Gefangener bleiben.
Das revolutionäre Projekt der Anarchisten besteht darin, gemeinsam mit den Leuten zu kämpfen, um sie dazu zu bringen, gegen jeglichen Übergriff und jegliche Repression und somit auch gegen das Gefängnis in Aufstand zu treten. Was die Anarchisten antreibt, ist das Verlangen nach einer besseren Welt, nach einem besseren Leben, nach einer Würde und einer Moral, die von der Ökonomie und der Polizei zerstört worden sind. In einer solchen Gesellschaft kann es keinen Platz für das Gefängnis geben. Dies ist, weshalb die Anarchisten Angst machen. Dies ist, weshalb sie in Gefängnissen eingesperrt werden.
Gefängnis von Rebbibia,
20. März 1997
Alfredo M. Bonanno
Quellen und Anmerkungen
(1) Eine alte Form des italienischen Theaters, in dessen Stücken stets dieselben Charakter-Stereotypen auftreten.
Über den Autor: Alfredo Maria Bonanno (Jahrgang 1937) ist ein italienischer Insurrektionalist. Diese anarchistische Strömung stellt den Gedanken der Rebellion in den Vordergrund. Den Anarchismus, der für Bonanno eine andauernde Reflexion und somit eine ständige persönliche und gesellschaftliche Veränderung darstellt, versteht er als Transformationsprozess und erst nachrangig als politische Ideologie.
1977, in der Hochphase der Eskalation der Gewalt zwischen dem italienischen Staat und militanten Gruppierungen wie den Roten Brigaden (Brigate Rosse), wurde sein Buch Die bewaffnete Freude (Orignaltitel: La gioia armata) veröffentlicht. Das Werk wurde in Italien aus Bibliotheken entfernt und Bonanno zu einer Gefängnisstrafe von 18 Monaten verurteilt.
2003 wurde Bonanno wegen Raubüberfalls zu sechs Jahren Haft verurteilt. In Griechenland wurde er 2009 gemeinsam mit dem Anarchisten Christos Stratigopoulos festgenommen, weil sie eine Bank überfallen haben sollen. Bonanno bekam eine Gefängnisstrafe von vier Jahren, musste diese aber wegen der Untersuchungshaft und seinem hohen Alter nicht antreten. Im Dezember 2013 reiste er nach Südamerika, um in Chile an verschiedenen Konferenzen teilzunehmen. Die Einreise wurde ihm aber verweigert.
Redaktioneller Hinweis: Der Beitrag von Alfredo Maria Bonanno ist ein Textauszug aus dem Buch “Eingeschlossen – Gedanken über das Gefängnis”. Der italienische Originaltitel des Textes, ein Vortrag über das Gefängnis, der im März 1993 im Laboratorio anarchico an der via Paglietta in Bologna gehalten wurde, lautet “Chiusi a chiave. Una riflessione sul carcere”.
Die erste Veröffentlichung erfolgte in dem Buch “Affinitä e organizzazione informale” (bei Edizioni Anarchismo, Seiten 116-134), dann bei Allaria edizioni (1997) und später in der Reihe Opuscoli provvisori (Nr. 8, April 2007) bei Edizioni Anarchismo. Die englische Ausgabe erschien 2008 bei Elephant Editions (London). Die Übersetzung ins Deutsche wurde im Januar 2014 von Konterband Editionen veröffentlicht.
Die Anarchistische Bibliothek hat den Inhalt archiviert. Neue Debatte veröffentlicht den Textauszug von Alfredo M. Bonanno als Zeitdokument, um aus der historischen Perspektive in der Gegenwart eine umfassende und kritische Diskussion über Herrschaftssysteme und die Instrumente der Macht zu ermöglichen.
Zur besseren Lesbarkeit im Netz wurden Absätze eingefügt und einzelne Absätze hervorgehoben.
Foto: Erik Mclean (Unsplash.com)
Leseempfehlung
Was ist der Aufstand?
2014 erschien das Buch “Anarchismus und Aufstand”. Darin beschreibt Alfredo Maria Bonanno, was er unter einem Aufstand versteht, der ein konkretes Ziel verfolgt und dessen Energie sich daher nicht wahrlos entfaltet. Die Vorstellung, ein Aufstand sei der schlichte Kampf auf den Barrikaden, sei kindisch.
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