Kategorien
Meinung

Van Morrison: Stop Bitching, Do Something!

Van Morrisons Studioalbum “Latest Record Project. Volume 1” ist eine voluminöse Sammlung von Gedanken über die Eiszeit des kulturellen Lebens in Zeiten des Lockdowns. Der Vorwurf, er sei ein Verschwörungstheoretiker, ließ nicht lange auf sich warten.

Schnell kann es gehen in diesen Zeiten. Da nutzt ein renommierter Musiker die Zeit der Lockdowns und der damit einhergehenden Eiszeit für das soziale und kulturelle Leben und versucht das, was er da erlebt, musikalisch zu verarbeiten. Herausgekommen ist eine voluminöse Sammlung von Gedanken, die sich ihm aufgedrängt haben. Das Ergebnis ist etwas, das der nordirische Musiker Van Morrison “Latest Record Project. Volume 1” genannt hat (1).

Und kaum ist es veröffentlicht, hagelt es massive Kritik. Die geht, wie sollte es anders sein, vom Vorwurf, er sei ein Verschwörungstheoretiker geworden bis hin zu dem, dass seine Stücke musikalisch in gewohnter Weise gut, lyrisch jedoch eine Katastrophe seien.

Irgendwie kommt einem das alles bekannt vor. Mit Van Morrisons Qualität hat das nichts zu tun. Mit dem mentalen Kollaps einer Gesellschaft jedoch sehr viel.

Unerwünschte Fragen

Einmal abgesehen von dem ersten Stück auf der ersten von zwei CDs mit dem Titel “Latest Record Project”, das nichtssagend ist, wartet Van Morrison jedoch mit Fragen und Statements auf, die noch vor der massiven Hysterie, die durch die Pandemie ausgelöst wurde, als völlig normal betrachtet worden wären.

“Where Have All The Rebels Gone”, wo beschrieben wird, dass die potenziellen Rebellen sich hinter ihren Displays versteckt haben, bildet den Auftakt für eine Reihe von Beobachtungen und Fragestellungen, die eigentlich auf der berühmten Straße liegen.

Da geht es um das Recht, Fragen zu stellen, da geht es um die Relativität von Wahrheit, da geht es um die Massenhysterie. Da geht es um den massiven Druck, der erzeugt wird, um öffentliche Narrative durchzusetzen, da geht es um die doppelten Standards, um die klassischen Doppelbotschaften, da geht es um irrtümliche Identitäten, ja, da geht es auch um die Medienkonzentration und um die fatalen Wirkungsweisen von Social Media.

Versteckt hinter Bildschirmen

Fragen wie Botschaften finden sich in den Titeln wieder und sind in der von dem Musiker gewohnten, guten, bluesigen, souligen und jazzigen Weise inszeniert und über Kritik an der Qualität erhaben.

Bei der Betrachtung der einzelnen Themen fällt im Detail wie in der Summe auf, dass es genau diese sind, um die sich kritische Kunst und Kultur in Zeiten derartiger Geschehnisse auseinandersetzen muss. Es handelt sich um kein “Kann” eines Künstlers, sondern um ein “Muss” aller, die sich diesem Genre verschrieben haben.

Da stellt sich eher die Frage, warum so viele schweigen und sich, wie Van Morrison beklagt, hinter ihren Bildschirmen verstecken und ein Dasein in Ratlosigkeit und Depression vorziehen. Um dieses Schweigen zu erklären, hilft vielleicht der Hinweis, dass die wenigen, die es bisher wagten, sich zu Wort zu melden, Opfer vom Shitstorm bis zur Morddrohung wurden.

Der rebellische Van Morrison

Insofern ist “Latest Record Project” nicht nur gegen die absurde Kritik lausiger Journalistenchargen zu verteidigen, die nichts mehr von dem Handwerk beherrschen, was den ehrwürdigen Beruf eigentlich ausmacht, sondern muss ausdrücklich positiv bewertet werden.

Da macht sich ein Vertreter rebellischer Musik auf den Weg, um seiner Identität Geltung zu verschaffen. Wer ihm das abspricht, reiht sich ein in die Zirkustruppe von Sektierern mit einer totalitären Logik. Da ist es wohltuend, Appellative von Van Morrison selbst zu hören: Stop Bitching, Do Something! Wohl gesprochen!


Quellen und Anmerkungen

(1) Sir Van Morrison (Jahrgang 1945) kommt aus Belfast (Nordirland). Sei eigentlicher Name ist George Ivan Morrison. Bekannt wurde er als Musiker, Sänger und Komponist. Erste Beachtung erlangte er in den 1960er-Jahren als Sänger der Rockband Them. 1967 landete er den bis heute millionenfach gespielten Hit: Brown Eyed Girl. 1993 wurde Morrison in die “Rock and Roll Hall of Fame” aufgenommen, das Rolling Stone Magazin führt ihn unter den 100 bedeutendsten Songwritern aller Zeiten. 2015 wurde er von Elisabeth II. in den Adelsstand erhoben und darf den Namenszusatz “Sir” führen. Van Morrison erhielt im Herbst 2020 mediale Beachtung, als er mit den Songs “Born to Be Free”, “No More Lockdown” und “As I Walked Out” gegen die Anti-Corona-Maßnahmen der britischen Regierung protestierte. Das Studioalbum “Latest Record Project, Volume 1” erschien im Mai 2021.


Foto: Robert McGowan (Unsplash.com)

Leseempfehlung

Kapitalismuskritik und die Frage nach der Alternative

Dass die bürgerlichen Intellektuellen sich nicht für die Alternative zum Kapitalismus interessieren, ist verständlich. Aber wie ist es zu erklären, dass die Alternative zum Kapitalismus, die sich aus der Marxschen Kritik des Kapitalismus ableiten lässt, keinerlei Beachtung bei den Kapitalismuskritikern gefunden hat?

Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Wie ist Deine Meinung zum Thema?

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.