Und wieder einmal ist das Spiel gespielt. Diesmal in Weißrussland. Und wieder einmal hat sich, sofern von klar umrissenen Lagern noch gesprochen werden kann, die eine Seite echauffiert und davon gesprochen, dass das Völkerrecht gebrochen worden ist. Und wieder einmal wurden denen, die jetzt entsetzt sind, die Fälle vorgehalten, bei denen man es im eigenen Ressort nicht so ernst mit dem Völkerrecht genommen hat. Und wieder einmal muss konzediert werden, dass beide Seiten mit Vorwürfen wie Erwiderungen nicht falsch liegen.
Was bei diesem Spiel als ein ramponierter Fetzen auf dem Tisch liegen bleibt, ist das Völkerrecht selbst. Es stellt sich die berechtigte Frage, welchen Wert ein Kodex noch hat, wenn er exklusiv nur noch als Anklagedokument gegen vermeintliche politische Gegner taugt, allerdings beim eigenen Handeln ignoriert wird wie eine lässliche Vorschrift.
Die Lage ist desolat, und sie erinnert an eine Epoche, als alle möglichen Motive die Akteure dazu veranlasste, zu machen, was sie wollten, ohne Rücksicht auf Verluste, vor allem was den internationalen Kontext betrifft.
Sternstunde der modernen Diplomatie
Die Blaupause, die dafür sorgte, dass sich so etwas wie das Völkerrecht entwickeln konnte und eine bedeutende Bindungswirkung erreichte, war der Westfälische Frieden. Der Kontrakt, der nach mehr als zweijährigen Verhandlungen von allen Beteiligten ratifiziert wurde, war das Endprodukt des Dreißigjährigen Krieges.
Er hatte Zentraleuropa in einen Schutthaufen verwandelt und war das Endresultat für das, was man treffend als einen rechtlosen Zustand bezeichnen kann. Die Gunst der Stunde im Jahr 1648 war dem Umstand geschuldet, dass alle Beteiligten aufgrund eines endlos erscheinenden Krieges mit ihrer Moral und ihren Ressourcen am Boden lagen.
Allein aus diesem Sachverhalt resultierte die Vernunft, sich darauf zu verständigen, dass in Zukunft das Interagieren von Staaten von der Tatsache auszugehen hatte, dass es so etwas gab wie eine politische, religiöse und kulturelle Autonomie, die von allen Seiten zu akzeptieren war und dass folglich keine Ursachen für kriegerische Handlungen aufgrund der inneren Zustände und Befindlichkeiten bei anderen Staaten zu suchen seien. Diese Einsicht kann als die Sternstunde der modernen Diplomatie bezeichnet werden.
Die historische Folie und der Todfeind
Die Geschichte hat gelehrt, dass auch diese Erkenntnis immer wieder in den Hintergrund trat und dass Kriege, die noch verheerender waren als der Dreißigjährige Krieg, vor allem der Erste und Zweite Weltkrieg, in ihrer Entstehung vor allem deshalb auf die Katastrophe zusteuerten, weil das Prinzip der Gleichbehandlung und Autonomie zwischen existierenden Staaten missachtet wurde. Am Ende dieser Verheerungen stand das Völkerrecht, wie es heute gilt und nun von Neuem immer wieder ignoriert wird.
Angesichts der historischen Folie lässt sich ablesen, wohin dieses Spiel führen muss, wenn es weiter gespielt wird.
Das Ende des Völkerrechts ist der Anfang vom Krieg. Und so, wie es aussieht, sind die handelnden Akteure sich dessen entweder nicht bewusst oder sie nehmen diesen Fall gar in Kauf. Das klingt dramatisch und das ist dramatisch.
Vorgestern, im deutschen Bundestag, war es immerhin ein Abgeordneter, der auf diese Misere hinwies und, ohne sich auf die eine oder andere Schuldzuweisung einzulassen, dafür warb, an einem politischen Konzept zu arbeiten, das das Völkerrecht in seiner internationalen Akzeptanz wiederherzustellen in der Lage ist. Der Ruf ging unter im Chor derer, die nach Vergeltung riefen und dabei vergaßen, dass das eigene Handeln nicht immer frei von Schuld ist.
Die Doppelmoral ist der Todfeind des Völkerrechts. Sie zu brechen, ist die erste und dringlichste Aufgabe.
Foto und Video: Mahdiar Mahmoodi (Unsplash.com) und Gerhard Mersmann
Leseempfehlung
“Delegitimieren wir die Gewaltpolitik der USA”
Rainer Mausfeld sprach bei der Stopp-Ramstein Protestwoche über die Air Base Ramstein, den Schurkenstaat USA und seine Helfershelfer.
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.