Die Lage ist nicht nur heikel, sie ist auch kompliziert. Es geht und die Frage von Recht und Gesetz. Mit Hinblick auf die geltende Verfassung wird davon gesprochen, dass wir in einem Rechtsstaat leben. Das Wesen des Rechtsstaats besteht darin, dass die verfassungsmäßig definierten Rechte unveräußerlich sind. Unveräußerlich heißt, sie sind unter keinen Umständen preiszugeben. Egal, welche Situation herrscht, das Recht hat alles andere zu dominieren. Sollte es dennoch eingeschränkt werden, so hat der Terminus Rechtsstaat seine Berechtigung verwirkt.
Schwierige Situationen für ein Staatswesen bedeuten, was die Rechtsstaatlichkeit anbetrifft, eine Art Nagelprobe für seine Reife.
Es geht hier nicht um das Abstraktum “Staat“, sondern um die gesamte Gesellschaft. Sind diejenigen, die von der Bevölkerung mit einem Mandat auf Zeit ausgestattet sind, in der Lage, schwierige Situationen zu meistern, und, nicht dass nur eine Dimension in die Betrachtung einfließt, sind auch die Auftraggeber, sprich das Volk, in der Lage, ihren Part in der Bezwingung eines gravierenden Problems zu spielen?
Illusion, Gesetze und Rechtsstaat
Bei Betrachtung der gegenwärtigen Situation fällt auf, dass die klare Konstellation, die einen Rechtsstaat ausmacht, in Virulenz geraten ist. Da sind die Mandatsträger in Regierungsverantwortung, die sich in einem Habitus und einer Diktion an das Volk richten, als seien sie Herrscher und hätten es mit Unmündigen zu tun, was die in diesen Tagen von ihnen meist gebrauchten Vokabeln wie “streng”, “hart” oder “Lockerungen” belegen.
Trotz der Fehler und Malaisen, die seitens der Funktionsträger begangen wurden, sind es immer wieder die Zweifel an der Mündigkeit des Souveräns, die sie beflügeln, Gesetze zu formulieren und zu verabschieden, die als Attacken gegen die verbrieften Rechte zu werten sind.
Wenn sich in dieser Krise jemand als reif und diszipliniert erwiesen hat, dann war es der Souverän. Und wenn es Zweifel an Loyalität und Verantwortungsbewusstsein gegeben hat, dann betraf es Mandatsträger, die ihrerseits die Krise genutzt haben, um sich schnöde zu bereichern.
Ja, man darf sich nicht der Illusion hingeben, Gesetze, die in ihrer Entstehung den vorgegebenen formalen Weg gegangen sind, seien ein Signum des Rechtsstaates. Gesetze, die das Recht außer Kraft setzen, haben mit dem Wesen eines Rechtsstaates nichts gemein.
Auch, und wenn es noch so schmerzt, auch Diktatoren der eigenen Geschichte haben Gesetze erlassen und sich auf diese berufen. Nur hatten sie nichts mit einem Rechtsstaat zu tun. Sie waren, wie momentan auch, formale Akte, die Rechte außer Kraft setzten.
Gesetzesstaat in der Staatskrise?
Dass ein Parlament sich anmaßt, Gesetze zu verabschieden, die die Rechte ihrer Auftraggeber außer Kraft setzen, ist der Skandal. Und, seien wir ehrlich, eine Mehrheit hat sich daran beteiligt, ob mit Bedenken oder nicht. Entscheidend ist der Akt. In Bezug auf die massive Einschränkung von Grundrechten muss davon gesprochen werden, dass die Bundesrepublik Deutschland ein Gesetzesstaat, aber kein Rechtsstaat ist.
Zu der gravierenden Verfehlung, die sich im Verlauf der Krise stabilisiert hat, gehört das Narrativ, dass man zu gegebener Zeit entscheide, wann die “unveräußerlichen” Rechte an den Souverän zurückgegeben werden. Dass andere Organe wie die eine der Grundfreiheiten genießende Presse und die öffentlich-rechtlichen Anstalten sich an dem verwegenen Narrativ beteiligen und sich nicht zum Anwalt des Souveräns machen, dokumentiert, wie weit von einer Staatskrise gesprochen werden muss.
Wenn sich einwandfrei verhaltene Bürgerinnen und Bürger durch Dokumente legitimieren müssen, um die ihnen genommenen Freiheiten eingeschränkt zurückzuerhalten, ist der Terminus Rechtsstaat Makulatur.
Foto: Michael Dziedzic (Unsplash.com)
Leseempfehlung
Die Herrschaft der Oligarchen
Das letzte Stadium jeder Zivilisation ist gekennzeichnet durch die Ignoranz herrschender Oligarchen gegenüber rationalen, umsichtigen und durchdachten Antworten auf soziale, ökonomische und politische Probleme. Sie verwüsten lieber den verwesenden Kadaver des Staates. Die Demokratie befindet sich in einem tödlichen Zangengriff. Nicht nur in den USA droht der Abstieg in die Barbarei.
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.