Das Faktum, dass alle kulturellen, politischen und sozialen Schübe, die das Leben in den USA verändern, mit zeitlicher Verzögerung auch die hiesige Provinz erreichen, sollte sich irgendwann auch in den hiesigen Köpfen festsetzen. Auch wenn gleich einem Mantra immer wieder gerne betont wird, wie absurd manches ist, was dort auf der anderen Seite des Atlantiks erscheinen mag: kommen wird es auch hier.
Gründe dafür haben etwas mit konkreten Machtverhältnissen zu tun, die nach wie vor wirken. Die Vorstellung, wir befänden uns in einem Areal kultureller Autonomie, erweist sich immer wieder als Illusion. Das mag viele schmerzen, vor allem diejenigen, die so gerne von den dekadenten amerikanischen Verhältnissen sprechen.
Wenn es dekadent ist, was sich in den USA abspielt, dann sollte der Rückschluss nahe liegen, dass dieses Bezeichnung auch hier die Zustände charakterisiert. Helfen tut diese Kategorisierung nicht, sie hilft vielleicht, sich (wie so gerne) wieder einmal zu erhitzen.
Auf Leben und Tod
Was allerdings auffällt, ist, dass vieles, was als Trendsetting in den USA geschieht, dort immer einhergeht mit einem angelsächsischen Pragmatismus, während in Deutschland die neuen Phänomene ideologisch überbordet exzessive Formen annehmen. Was dort ausprobiert und sollte es nicht zielführend sein, auch schnell wieder im historischen Schredder landet, wird hier zu einer Frage auf Leben und Tod.
Ohne Drama, und zwar in der Dimension einer antiken Tragödie geht es nicht. Wenn es eine kulturelle DNA gibt, dann ist es die: Weichenstellungen haben immer etwas von einer Götterdämmerung.
Und, auch das ist ein unübersehbares Phänomen, der Hang zum Ultimativen, Existenziellen, Mystischen ist unabhängig von der Zusammensetzung der hiesigen Population. Zumindest in diesem Punkt ist eine gewisse Assimilation, wenn nicht gar Integration gelungen.
Neuer Trend aus den USA
Der neueste Trend, der mittlerweile signifikant aus den USA nach Germanistan herüberweht, fokussiert die Identität der einzelnen gesellschaftlichen Partikel. Es geht um die Definition der individuellen Besonderheit, um die daraus resultierenden Geschichten von Diskriminierung.
Dass Diskriminierung stattfindet, ist eine Gewissheit, dass sich eine Gesellschaft über die Verhinderung von Diskriminierung definiert oder definieren sollte, ist neu. Bis dato waren gerade die USA eine Nation, die sich über die Verfassung, ihre in dieser formulierten Chancen und Rechte und die sie sichern sollenden Organe definierte.
Dass die Gesellschaft ins Wanken geraten ist, hat vor allem mit der Aushöhlung aller Gewissheiten durch eine Politik zu tun, die immense Ressourcen in die Sicherung von globaler Hegemonie investiert, die sich einzig und allein den Starken verpflichtet fühlt und die mit dieser Entscheidung die Chancen für das Gros der Gesellschaft zunichtegemacht hat. Folge davon ist sozialer Abstieg, eine tiefe Spaltung der Gesellschaft und eine damit einhergehende Verbreitung von Diskriminierung.
Wokeness, ein Reflex auf Diskriminierung, ist jedoch eine Bewegung, die vor allem in den Universitäten als beachtenswertes Phänomen zu beobachten ist, also dort, wo bereits eine soziale Selektion stattgefunden hat (1). Und es fällt auf, dass zwar akribisch auf die Auswirkungen gesellschaftlicher Spaltung geachtet wird, die Ursachen für diese Spaltung allerdings keine Rolle spielen.
In den USA scheint sich dieser von Eliten geprägte Trend bereits wieder aufzulösen, weil den Universitäten, an denen das Wokeness Movement sich zu einer Massenhysterie mit hohem neuen Diskriminierungsgehalt entwickelt hat, die Stiftungsgelder ausbleiben.
Ausgeblendete Ursachen
Hier wiederum beginnt das Phänomen sich auszubreiten und wird in gewohnter Weise auf die ideologische Spitze getrieben. Wie in einem schlechten Remake ist schon jetzt abzusehen, dass trotz der Hitzigkeit auch hier, ganz wie beim transatlantischen Vorbild, die Ursachen gesellschaftlicher Spaltung gar keine Rolle spielen. Die Analogie zur Klimabewegung ist bereits deutlich: So wie diese Militär und Krieg bei ihren Protesten ausblendet, so versäumt es Wokeness, die soziale Spaltung der Gesellschaft zu fokussieren.
Quellen und Anmerkungen
(1) The Elm (22.10.2020): The meaning of “wokeness”, explained. Auf https://blog.washcoll.edu/wordpress/theelm/2020/10/the-meaning-of-wokeness-explained/ (abgerufen am 31.5.2021).
Foto: Imtiyaz Ali (Unsplash.com)
Leseempfehlung
USA: Von Jamestown bis zur Supermacht
Gast bei Reiner Wein, dem politischen Podcast aus Wien, ist der Historiker Dr. Daniele Ganser. Nachgezeichnet wird der Weg der USA von den Anfängen bis zur Supermacht. Die befindet sich nicht erst seit Corona in der Krise. Aber zieht sie sich deshalb zurück?
2 Antworten auf „Wokeness: Zum Trend aus den USA“
“ANkommen wird es auch hier!” hätte ich geschrieben. erhard Mersmann, Sie führen ja selbst im Folgenden aus, dass Trends aus den USA in Deutschland anders interpretiert werden und völlig anders Fuß fassen. Ist es in der DNA der USA, wo beim “Going West” kein Staat geschützt hat, nur der eigene Colt? Der Aufstieg der Weißen auf dem Niedergang der indigenen Völker basiert? Die Geschichte keine Aristrokratie, keine Königshäuser kennt? Ganz anders in Europa: Wir scheinen das “Obrigkeitsgen” in den Erbanlagen gespeichert zu haben. Französische Revolution Hin oder Her.
Hoffnung machen “Weltbürger” wie Hannah Arendt: (Und sie hat, da bin ich mir sicher, auch Frauen nicht ausschließen wollen) “Keiner hat das Recht zu gehorchen!”
Als ein Exemplar der Gattung SAT* fühle ich mich auch total diskrimiert!
______
*(SAT = seniler, alter Trottel.)