Stefan Kraft, Verleger und Publizist aus Wien, ist Gast bei Reiner Wein, dem politischen Podcast. Die Themen des Gesprächs könnten kaum aktueller sein: Es geht um die Herrschaft der Angst, die die Menschen erfasst hat. Sie führt die Gesellschaft von der Bedrohung zum Ausnahmezustand.
Es ist die Angst vor dem Virus, die gepeitscht wird von einer Medienindustrie, die jede Nuance zur Apokalypse aufpumpt. Kritische Fragen sind unerwünscht, das freie Denken wird ausgeschaltet.
Was ist mit den sozialen Beziehungen? Sie zerfallen vor unseren Augen. Die Angst, ein falsches Wort an der falschen Stelle zu äußern, treibt die Menschen in die Isolation und die Angst vor der Diktatur in die giftige Umarmung des zunehmend repressiven Staates. Und dann ist da noch die Angst vor dem Verlust des Jobs und dem Fall ins Bodenlose. Aber ist für Rationalisierung, Automatisierung und Digitalisierung auch das Virus verantwortlich? Sicher nicht. Viele Begründungen für teilweise unhaltbare Zustände sind im ökonomischen System begründet, dem Fundament der Klassengesellschaft.
Herrschaft der Angst, freie Publizistik und Klassengesellschaft
Reiner Wein, der politische Podcast aus Wien. Gast: Stefan Kraft
Stefan Kraft schildert seine Beweggründe, beim Buch “Herrschaft der Angst” mitzuwirken. Für ihn ist es erschreckend, wie schnell sich bestimmte Entwicklungen wie die Einschränkung der Bürger- und Freiheitsrechte in Gesellschaft und Politik verfestigen und wie wenig Widerstand es dagegen gibt.
Klasse gegen Klasse
Herrschaft habe immer eine ökonomische Basis, deshalb müsse man sich ansehen, zu wessen Vorteil politische Entscheidungen getroffen werden und wer diese beeinflusst. Auch in der bürgerlichen Demokratie gäbe es weiterhin die Marx’schen Klassen. Die ehemals kapitalismuskritischen Parteien (beispielsweise die Sozialdemokraten) haben sich über die Jahrzehnte mit dem ehemaligen Klassenfeind arrangiert – eine Art Seitenwechsel.
Auch wenn der klassische Arbeiter heute wesentlich schwerer zu erkennen ist, so könne man die “Unterschicht” immer noch soziologisch definieren. Früher war sich die Arbeiterklasse ihrem Streben nach sozialer Gerechtigkeit wesentlich stärker bewusst. Das friedliche Hinüberwachsen in den Sozialismus ohne Revolution gegen die Bourgeoisie, wie es manche Austromarxisten vertraten, sei nicht eingetreten. Der darauffolgende Faschismus habe in weiten Teilen Europas zu einer Atomisierung der Arbeiterklasse geführt.
| Reiner Wein Interview (Quelle: Idealism Prevails/YouTube)
Im Kalten Krieg gab es für die revolutionären Strömungen der Zwischenkriegszeit keinen Platz, die 68er und auch die Umweltbewegung kommen schon nicht mehr aus der Arbeiterklasse, auch wenn sich deren Proponenten mit ihr verbrüdern.
In der Coronakrise wurde der Solidaritätsbegriff weitgehend missbräuchlich verwendet: Denn nicht nur in der 3. Welt, sondern auch in unseren Breiten litten und leiden vor allem die Unterschichten unter dem Lockdown (vor allem was die Wohn- und die Berufssituation betrifft). Das Klatschen für Menschen in Gesundheitsberufen sei zwar eine nette Geste, mache die (teils massive) Unterbezahlung für eine anstrengende und lebensnotwendige Arbeit, die zu einem Großteil von Migranten geleistet wird, aber nicht besser.
Herrschaft der Angst
Weiterhin müsste man darauf hinweisen, wie viele Krankenhäuser 2020 geschlossen wurden, wodurch der Druck auf das Gesundheitspersonal noch stärker zunimmt. Hier gäbe es für die politische Linke genügend Ansätze, Solidarität zu zeigen/fordern – und nicht darin, noch härtere Lockdowns zu fordern.
Viel schlimmer als Europa trifft es den Globalen Süden, wo es keine soziale Absicherung gibt und die Ausübung eines Jobs überlebenswichtig ist. Auch hier sieht man bisher keine Form der Solidarität.
Im Buch “Herrschaft der Angst” wird dargelegt, dass sich die Vermittlung von Zwangsmaßnahmen mit dem Mittel der Angst durchaus nicht nur auf Corona beschränkt: Auch im Kampf gegen den Terrorismus wurde diese Strategie schon “”erfolgreich angewandt, um zahlreiche Bürgerrechte mittels Sondergesetzen einzuschränken – obwohl die Bedrohung für den Einzelnen verschwindend gering ist.
Stefan Kraft nennt als Beispiel die Razzien nach dem Terroranschlag von Wien: Willkürlich wurden politisch motivierte Hausdurchsuchungen durchgeführt. Einer der damals Betroffenen steuerte auch einen Beitrag zum Buch bei.
Während sich die Herrschaft der Angst entfaltet, wird der Ausnahmezustand zur Routine. Das Virus ist der Brandbeschleuniger für immer mehr staatliche Überwachungsmaßnahmen, während die Umverteilung von unten nach oben voranschreitet. Das ist nicht ungewöhnlich, meint der Stefan Kraft. Neoliberalismus und Angstherrschaft hängen zusammen.
Informationen zum Buch

Herrschaft der Angst
Von der Bedrohung zum Ausnahmezustand
Mit Texten von Wolf Wetzel, Marlene Streeruwitz, Moshe Zuckermann, Norman Paech, Rainer Fischbach, Birgit Sauer, Farid Hafez, Michael Meyen, Diether Dehm, Joachim Hirsch, Maria Wölflingseder, Imad Mustafa, Dieter Reinisch, Karl Reitter und Christian Schubert.
Herausgeber: Hannes Hofbauer und Stefan Kraft
Genre: Politik und Ökonomie
Sprache: Deutsch
Seiten: 320
Veröffentlichung: 2021
Verlag: Promedia
ISBN: 978-3-85371-488-1

Über den Gast: Stefan Kraft (Jahrgang 1975) ist Verleger und Publizist in Wien. Von ihm erschien im Promedia Verlag “Rosa Luxemburg” (2005, gemeinsam mit Fritz Keller) und “Der junge Marx” (2007, gemeinsam mit Karl Reitter).
Fotos und Audio: Dibakar Roy (Unsplash.com), Reiner Wein und Promedia Verlag
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Eine Antwort auf „Herrschaft der Angst: Ein Gespräch mit dem Publizisten Stefan Kraft“
Was in den 80er Jahren das HIV die Menschen in Angst und Panik brachte, ist heute das COVID-19.
Unter den Schlagzeilen des 20. Jahrhunderts ist auch folgende zu entdecken: „Trotz weltweiten Wettrüstens und neuer Krisenherde macht man sich in den westlichen Gesellschaften zu Beginn der 80er Jahre mehr Gedanken um die immer umfangreichere Freizeit als um eine sichere Zukunft. Der Schock trifft die saturierte Gesellschaft dann auch nicht wegen der Stationierung von Mittelstreckenraketen, Falkland – Krieg oder Hungerkatastrophe in Äthiopien, er kommt vielmehr aus der Medizin und hat nur vier Buchstaben: Aids. Die neue Geißel der Menschheit verlockt die Medien zunächst zu unkontrollierten Spekulationen und zu Kampagnen, die unter dem Vorwand der Aufklärung und Vorbeugung zur Verunsicherung beitragen. Selbst seriöse Magazine greifen begierig jede Prognose auf und malen ihr Menetekel für die Menschheit an die Wand.“
Nachdem die Wissenschaft eindeutig nachgewiesen hatte, dass die Ansteckung nur über Blut und Körpersekrete, vor allem beim Geschlechtsverkehr erfolgt und die Zahl der infizierten heterosexuellen Personen bis Ende des Jahrzehnts ständig stieg, erfolgte eine in dieser Form nie für möglich gehaltene öffentliche Debatte um das Sexualverhalten. Restriktive Maßnahmen riefen dagegen nicht gerade Begeisterung hervor. Denn Ende des Jahrzehnts glaubten Beobachter zumindest für die Bundesrepublik bilanzieren zu können, dass der vorsichtigere sexuelle Umgang miteinander erste Erfolge zeige. Denn während es in Afrika bis zu 10 Millionen Infizierte gab, lag die Zahl der registrierten Erkrankungen Ende 1988 bei 5109. Die Anzahl der gemeldeten HIV – Infektionen wurde Ende 1989 mit 37091 angegeben.(Chronik ’91 – Jahresrückblick Chronik Verlag Dortmund 1991)
Aus betriebswirtschaftlicher Sicht sind vom Kapital abhängige Wirtschaftsgefüge nicht in erster Linie interessiert, die Gesundheit und körperliches Wohlbefinden betreffende Probleme kausal, also ein für allemal, zu lösen, da man so die Produktion und Konsumtion von Medikamenten und anderem drosseln beziehungsweise überflüssig machen würde. Kapitalwirtschaftlich konkurrierende Unternehmen sind prinzipiell dazu stimuliert, therapeutische Lösungen zur symptomatischen Behandlung und lindernden Intervention zu konzipieren und sich die dazu notwendigen produktionsvorbereitenden Aufwendungen vorfinanzieren zu lassen.
Investitionen in Forschungsprogramme, die kausale Problemlösungen erbringen könnten, können mangels Garantie für das Einlösen finanzieller Verbindlichkeiten an Kreditinstitute kaum getätigt werden. Das gilt nicht nur für Fragen die Gesundheit des Menschen betreffend, sondern die Grundlagenforschung insgesamt. Kapitalistisches Wirtschaften ist also letztlich nicht in der Lage, die für die Weiterentwicklung der Produktivkräfte notwendigen Erkenntnisse zu gewinnen und sie nutzbringend zu verwenden.
„Reicht es denn nicht allmählich mit dem systematischen Gemurkse, das uns schon so lange Zeit ‚die da oben’ – die Wirtschaftsbosse, die Politiker, der ‚Staat’ – als Normalität verkaufen und Ist jetzt nicht, wie so häufig in den vergangenen Jahrhunderten, die Zeit gekommen Tschüss ihr da oben zu rufen und die Sache wieder selbst in die Hand zu nehmen“ fragt sich Peter Zudeik in seinem Buch vom baldigen Ende des Kapitalismus. Und er zeigt darin auf, wie berechtigt seine Fragen sind. Zum Beispiel – Das elementarste Problem der Kluft zwischen armen und reichen Ländern sei der Hunger.
„Täglich verhungern weltweit 50 000 Menschen, vor allem Kinder. Dabei könnten sie alle satt werden. Allein die Menge des weltweit geernteten Getreides könnte die Weltbevölkerung ernähren. Aber Getreide wird in den Industrieländern vorzugsweise als Viehfutter verwendet. Und in den reichsten Ländern verbrauchen die Menschen vierhundertmal soviel wie die in den ärmsten.“
Anfang des Jahres 2008, als die große Wucht der Finanzkrise allenfalls zu erahnen war, habe eine Nahrungsmittelkrise den Globus heimgesucht. „Mais, Weizen, Reis wurden plötzlich sprunghaft teurer. Der Preis für Reis stieg in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince um fast 80 Prozent.“ Hungerrevolten seien die Folge gewesen, nicht nur in Haiti. Auch im Senegal in Burkina Faso Mauretanien und Kamerun seien die Menschen auf die Straße gegangen. „Ein Grund für die Preisexplosion waren Spekulationen an der Board of Trade in Chicago, der einzigen Terminbörse, an der Reis gehandelt wird. Der Kapitalismus ist nicht gerecht, er will es nicht sein. Kann es nicht sein wollen“, müsse man genauer sagen, stellt Peter Zudeik auf der Rückseite seiner Buches „Tschüss ihr da Oben“ fest. (Peter Zudeik – Tschüss ihr da oben – Westend Verlag Frankfurt an Main 2009)
Alles, was gegenwärtig in der Weltgesellschaft passiert, wird durch profitorientiertes finanzwirtschaftliches Kalkül bestimmt. Darum heißt es für alle mit Verstand im Kopf und Herz im Leib dagegen aufzubegehren, damit künftig nicht mehr die Gier nach geldwertem Vorteil das alles Bestimmende ist, sondern dass die Befriedigung lebensnotwendiger Bedürfnisse und die Verbesserung der Lebensqualität aller Menschen die treibenden Handlungsmotive in unserem Zusammenleben werden. Die Lösung der Probleme, die sich aus dem kapitalistischen Wirtschaften ergeben, kann nur durch bewusstes Umgestalten der Produktionsverhältnisse, also durch politisches Handeln erfolgen, in dem nach dem Begreifen der Notwendigkeiten gesucht, das Befriedigen wahrhaftiger Bedürfnisse erstrebt und das Bewahren der Wirklichkeit gewollt werden.