Zu Beginn dessen, was sich seit dem Frühjahr 2020 als die Covid-Pandemie in die Journale geschrieben hat, lag nicht nur Schock und Entsetzen. Als klar wurde, dass vieles, woran man sich gewöhnt hatte, zumindest für einen bestimmten Zeitraum nicht mehr möglich sein würde, gab es nicht nur Wehklagen, sondern auch Hoffnung.
Vielleicht am deutlichsten kam dies in dem kurzen Essay des Zukunftsforschers Matthias Horx mit dem Titel “15 1/2 Regeln für die Zukunft” zum Ausdruck (1). Er warb darum, nicht düster, sondern zuversichtlich in die Zukunft zu blicken und sich vor Augen zu führen, was aus der Krise alles gelernt werden könne.
Diesem Trend ergaben sich viele, auch jene Menschen, die es satt hatten, den Unfug entfesselter Marktideologie, systematischer Vernichtung des Sozialstaates, geopolitischer Konfrontation, groß angelegter Umweltvernichtung und zynischer Besitzverteilung bis zum bitteren Ende zuzuschauen. Viele Initiativen entstanden, um eine Diskussion darüber zu führen, was passieren muss, damit das unheroische Treiben auf den existenziellen Abgrund vielleicht doch noch gestoppt werden kann.
Hoffnungen und Eintagsfliegen
Um alle zu beruhigen, die diesen Ansätzen wiederum mit Schrecken begegneten, weil Veränderung auch immer Verlust bedeutet: Sie mögen sich nicht sorgen. Ganz im Gegenteil, vieles von dem, was für einen Moment als überkommen betrachtet wurde, hat sich als äußerst überlebensfähig erwiesen, und vieles, das Anlass zur Hoffnung gegeben hätte, erwies sich als Eintagsfliege. Die Reichen wurden reicher, die Armen ärmer, die Systematik des Raubbaus an der Natur wurde noch rigoroser vollzogen, die säbelrasselnde Konfrontation zwischen Ost und West, Atlantik und Pazifik ist um einiges lauter geworden und der Sozialstaat steht vor einem erneuten Kahlschlag.
Dass sich viele aus dem Management der Krise während derselben auch noch als seelenlose Schnorrer oder ekelerregende Zyniker entpuppten, gehört wahrscheinlich mittlerweile zum Geschäft. Dass aber aus dem Lager der politischen Klasse bis auf ganz wenige Stimmen niemand über wirklich notwendige Konsequenzen nachzudenken wagt, zeigt, wie weit die Realität von den positiven Entwürfen des für einen Moment so gefeierten “Possibilisten” Horx entfernt ist. Die Fragen, die auf der Hand liegen, sind allerdings den meisten bekannt:
- Wem nützt es, wenn Menschen für fünfzig Cent die Stunde irgendwo in Asien Billigware für die Geringverdiener hier im Wertewesten herstellen?
- Wem ist damit geholfen, wenn Nordseekrabben mit Lkws nach Marokko gekarrt und dort gepult werden, um sie hinterher wieder am Nordseestrand zu verkaufen?
- Wem nützt es, wenn Kambodschas Flüsse erodieren, weil ihr Sand in den urbanen Zentren der USA zum Bauen gebraucht wird?
- Wem nützt es, wenn NATO-Manöver an der russischen Grenze abgehalten werden, fern ab von jenen Ländern, die es zu verteidigen gälte, sofern sich dort eine Bedrohung zeigte?
- Wem nützt es, wenn man mit Herzblut chinesische und russische Dissidenten verteidigt, während einst freie Journalisten in den eigenen Strafvollzugsanstalten dem Tode entgegen dämmern?
- Wem nützt es, wenn die einen nach einem arbeitsreichen Leben eine Rente bekommen, von der sie nicht leben können, während andere, die das große Glück eines immensen Erbes hatten, quasi darum betteln müssen, steuerlich belangt zu werden?
Kein Traum
Die Fragen waren schon vor der Pandemie bekannt. Letztere hat nichts in Bezug auf eine innere Lernfähigkeit bewirkt. Wenn sie etwas gezeigt hat, dann, dass das geschäftsführende Personal eines Desaster-Unternehmens für ein neues Geschäftsmodell nicht zu gebrauchen ist und dass das Geschäftsmodell selbst hinsichtlich seiner eigenen Perversion keine Grenzen kennt.
Quellen und Anmerkungen
(1) Matthias Horx (Jahrgang 1955) ist Publizist und Trendforscher. Er ist als Unternehmensberater und Autor tätig. 1998 gründete er das Zukunftsinstitut mit Sitz in Frankfurt am Main, das eine Zweigstelle in Wien unterhält. Horx, der sich unter anderem mit der Zukunft der Arbeitswelt und den Auswirkungen des demografischen Wandels beschäftigt, diagnostiziert und beschreibt eine Veränderung gesellschaftlicher Werte und Lebensformen unter den Bedingungen des globalisierten Kapitalismus. Horx geht von einem Wertewandel im Bildungs-, Konsum- und Freizeitverhalten aus, in dem sich Märkte in Sinnmärkte verwandeln.
Foto: Joshua Coleman (Unsplash.com)
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Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.