Mit den Werten ist es so eine Sache. Sie gelten immer nur da, wo sie von einer Mehrheit der Bevölkerung getragen werden. Verordnen gegen die Lebenserfahrung, die Wünsche und Hoffnungen derer, für die sie gelten sollen, wird man sie können, eine Wirkung im Sinne gesellschaftlicher Akzeptanz werden sie jedoch nicht bekommen.
Wir leben, zumindest in den Regionen, in denen als Referenz das westliche Demokratieverständnis herrscht, in einer Zeit, in der die hier gültigen und im Großen und Ganzen akzeptierten Werte zum Maßstab für die Beurteilung politischer Maßnahmen gelten, in der die hier existierenden Werte auf den Rest der Welt als Kriterium übertragen werden.
Es handelt es sich dabei um eine neue, vielleicht auch nur um eine alte Form des Kolonialismus, die in einem hübschen Gewand daherkommt, mit den tatsächlichen Gegebenheiten auf dieser Welt jedoch nichts zu tun hat. Der gegenwärtige G7-Gipfel, wie die jüngsten Verlautbarungen aus der NATO werden wieder ein Beispiel dafür geben, wie gefährlich und anmaßend die beschriebene Vorstellung ist.
Die Dominanz der Gemeinschaft
Zuletzt und immer mehr im Fokus steht, neben Russland, das sich zum Klassiker eines Feindes westlicher Werte gemausert hat bzw. in der hiesigen Wahrnehmung gemausert wurde, China.
Bei Letzterem geht es um das Land auf dem Globus mit den meisten Einwohnerinnen und Einwohnern. Es blickt auf eine lange Geschichte und eine nicht mit europäischen oder amerikanischen Verhältnissen vergleichbaren Tradition und Kultur zurück, die vor allem durch eines geprägt ist: die Dominanz der Gemeinschaft. Das geht zurück auf die alten chinesischen Werte bis hin zu der übrigens aus dem Westen stammenden Theorie des Kollektivismus, die deshalb in China auf fruchtbaren Boden fallen konnte, weil der Individualismus europäischer Prägung dort nie eine Rolle gespielt hat.
Das ist bis heute so – und auf die Idee kommen diejenigen, die im Westen politische Entscheidungen treffen und diejenigen, die affirmativ darüber berichten, nicht. Da reicht es, dass die heutigen Werte der ehemaligen Kolonisatoren in China nicht akzeptiert werden.
Werte und Zukunft
Zur Zustimmung zu politischen Systemen durch die jeweils eigene Bevölkerung gehört noch weit vor den reklamierten Werten, dass das politische System der Mehrheit der Bevölkerung eine positive Aussicht auf die Zukunft gewährleisten kann.
Sieht man sich die jüngere Geschichte Chinas an und lässt man die sogenannten Chinesinnen und Chinesen von der Straße zu Wort kommen, dann trauen sie dem eignen politischen System genau dies zu: Es existiert kein Dissens darüber, dass die Mehrheit der Bevölkerung der Auffassung ist, dass es ihren Kindern einmal besser gehen wird, als es ihnen heute geht. Dabei handelt sich um ein Pfand, das, nehmen wir einmal das eigene Land, hier einmal galt, von dem jedoch nur noch die wenigsten überzeugt sind.
Ein weiteres Plus, dass das chinesische politische System bei der eignen Bevölkerung genießt, ist die feste Überzeugung, dass solche traumatischen Erlebnisse, Demütigungen und Vernichtungen, wie sie viele Chinesinnen und Chinesen während der Kolonisierung Chinas und durch den Opiumkrieg erlebt haben, nicht mehr möglich sind (1).
Perspektivenwechsel
Und es käme einer Pädagogikeinheit für die Anhänger des westlichen Werte-Imperialismus gleich, wenn eine Umfrage durchgeführt würde, was die Menschen in China über die Zustände in Hongkong dächten, jenem letzten Beutestück des europäischen Kolonialismus aus dem dreckigen Opiumkrieg, das heute in ein glühendes Licht westlicher Demokratie und Werte getaucht wird.
Es ist, glaube ich, nicht vermessen, davon auszugehen, dass viele sich die Augen reiben würden, wie das aus Sicht der Chinesen beurteilt würde. Bei allem guten Glauben, manchmal bewirkt ein kleiner Perspektivenwechsel erstaunliche Erkenntnisse.
Quellen und Anmerkungen
(1) Der Erste Opiumkrieg war ein kriegerischer Konflikt zwischen Großbritannien und dem Kaiserreich China (Qing-Dynastie). Er wurde vom 4. September 1839 bis zum 29. August 1842 ausgetragen. Die Briten nahm die Beschlagnahmung des Opiums britischer Händler zum Anlass, den Krieg zu beginnen. Das chinesische Kaiserreich wurde in einer mehrjährigen Militärexpedition und durch die Eroberung und Blockade strategisch gelegener Küstenstädte zu nachteiligen Verträgen gezwungen. Die Konzessionen dieser Verträge entzogen China die Souveränität über den eigenen Außenhandel und öffneten die chinesischen Märkte für die Briten und andere Europäer. Außerdem musste der chinesische Staat Reparationen für die britischen Kriegskosten und das vernichtete Opium leisten.
Foto: Arie Wubben (Unsplash.com)
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Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.