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Reportage

Die Reportage: Als Callboy im Puff “Paradox”

Die 1980er-Jahre. Ein Klub in Hamburg suchte per Anzeige männliche Mitarbeiter. “Nur für die Frau!” stand unter dem Emblem einer schäumenden Sektflasche. Mutige Unternehmer waren angetreten, um die letzte Sexlücke zu schließen. Die Ankündigung versprach der holden Weiblichkeit Gesellschaft vom Feinsten: Männer, Männer, Männer! Einer dieser Männer war ich.

Wir wollten uns doch wieder mehr Geschichten erzählen. Hier ist eine, wie sie skurriler kaum sein könnte: Auf der “Treffpunkt”-Seite der Hamburger Morgenpost fand ich Ende der Achtzigerjahre eine Anzeige der besonderen Art. Ein Klub in Niendorf suchte männliche Mitarbeiter. “Nur für die Frau!” stand unter dem Emblem einer schäumenden Sektflasche.

Mutige Unternehmer waren angetreten, um die letzte Sexlücke zu schließen. Die Ankündigung versprach der holden Weiblichkeit Gesellschaft vom Feinsten: Männer, Männer, Männer! Einer dieser Männer war ich.

Ich hatte zwei Monate zuvor meinen Job als Redakteur einer großen Tageszeitung gekündigt und brauchte Geld. Eine Reportage als Callboy im Puff “Paradox” müsste sich doch verkaufen lassen. Also rief ich den Playboy an und erzählte, dass ich mich in dem Klub bewerben wolle. Falls sie mich da nehmen sollten, würde ich ihnen einen hinreißenden Bericht liefern. Ich hatte kaum ausgesprochen, da hatte ich den Auftrag schon. Das vereinbarte Honorar konnte sich ebenfalls sehen lassen.

Es war nicht schwer, den Job zu bekommen. Ein Anruf, ein kurzes Vorstellungsgespräch in einer Privatwohnung und schon war ich engagiert. Meine Vorteile? Nun ja, die souveräne männliche Ausstrahlung, ein interessantes, vom Leben gezeichnetes Gesicht, gütige Augen und die Fähigkeit, die Sache mit Humor zu tragen. Da waren mein Boss Vladimir und ich uns einig.

“Du bist genau der Richtige”, sagte er, “Jüngelchen können wir nicht gebrauchen”.

Das ging runter. Wenn Männer schon so dachten, was würden erst die Frauen sagen? Da ich kein Jüngelchen war, hatte ich die Ehre, bei der Premiere dabei zu sein. Arbeitskleidung war mitzubringen: Badehose und wenn möglich ein geripptes Unterhemd. Ärmelloses T-Shirt sei auch okay. Nächsten Sonntag sollte es losgehen, zwölf Uhr mittags, High Noon …

Der Taxifahrer war sich nicht sicher, wo sich der Klub “Paradox” befand, und so machten wir eine kleine Zeitziehungstour durch Niendorf und blieben schließlich vor einer verwunschenen Villa stehen. Kurz darauf verlor ich die Sonne aus den Augen. Da war es: das tiefe, samtene, Wände und Boden überziehende, noch die Spiegel sättigende Puff-Rot! Nichts in der langen Geschichte der Innenarchitektur und ihrer Geschmacksverirrungen hat sich hartnäckiger behauptet als der Kordelplüsch in Rot, mit dem die Bordelle dieser Welt seit Jahrhunderten auf Bauernfang gehen.

Ich war der Erste. Es roch nach Scheuermitteln. Hinter der Bar tilgte eine Putzfrau die Spuren der Nacht. Ihre Ignoranz tat gut. Unter der Woche arbeitete man hier mit Animierdamen. Unsere Truppe sollte nun beweisen, dass Kohle auch im Umkehrschluss gemacht werden kann. Nach wenigen Minuten schlenderte ein junger Kollege mit Sporttasche herein. Verwirrten Blickes zwar, aber mit einem verkrampften Lächeln um die Lippen. Ich reichte ihm jovial die Hand. So gibt man sich in jeder Firma am ersten Tag die Hand: kräftig, geradeaus, Mut zusprechend. Wir sollten gleich genügend Gelegenheiten haben, diesen Handschlag zu wiederholen. Punkt zwölf waren die sieben Glorreichen komplett: jeder bereit, sein Bestes zu geben.

Betriebsbesichtigung. Puffvater Ferdi ging voran.

“Zur Linken unser Swimmingpool. Und dies hier ist ein Bidet, falls die Damen, na, ihr wisst schon …”

“Hier kann man richtig baden gehen”, bemerkte Kollege Werner. Sympathischer Bursche. Es folgten Sauna, Toiletten, Umkleideräume. Dann schritten wir in die Zimmer. Donnerwetter, hier ließ es sich lieben! Doppelbett mit Baldachin, gepolsterte Sitzgruppe, Rundumverspiegelung und, und, und …

“Nett”, sagte Werner.

Der Türke prüfte mit spitzen Fingern die Matratze. Er gehörte zu jenen, die beim Autokauf gegen die Reifen treten, um Kompetenz zu beweisen. Ferdi dimmte das Rotlicht herunter. Zeit zum Umziehen. Wir schlüpften in unsere Höschen und trafen uns bei einer gemütlichen Tasse Kaffee zum Informationsgespräch. Zunächst der Verdienst. Einen Hunni für jeden, dem es gelingt, seiner Klientin eine Flasche Sekt aufzuschwatzen. Dafür müssten wir selbstverständlich bereit sein, mit der Dame aufs Zimmer zu gehen, wenn sie es denn partout will. Selbstverständlich.

Wir erhielten Einblick in die Preisliste (die billigste Flasche Schampus 290, die teuerste 470) und lauschten Ferdis Exkurs über die weibliche Psyche. Fazit: Frauen wollen sich in erster Linie ausquatschen, Charme und Verständnis seien mithin oberstes Gebot!

“Was ist mit den Perversen?”, fragte Werner, “und was mit den Nutten? Die kommen garantiert, um uns auszulachen!”

“Keine Sorge, Jungs”, beruhigte Ferdi, “wenn es Ärger gibt, kommt ihr zu mir”.

Bis auf Manfred, der schon in Baden-Württemberg als Landcallboy gearbeitet hatte, waren wir noch unbeleckt.

“Und sitzt nicht wie die Hühner auf der Stange, wenn Kundinnen da sind, sondern schwimmt ‘ne Runde. Das macht die Mädels unbefangen”, lautete Ferdis abschließender Rat.

Es konnte losgehen.

Fünfzehn Uhr. Eigentlich hatte niemand geglaubt, dass die Frauen gleich nach dem Mittagessen ins Freudenhaus strömen würden. Drei meiner Kollegen lümmelten sich auf den Liegen am Pool, einer schwitzte in der Sauna, zwei spielten Tabla. Ich schwamm ‘ne Runde. Noch nie hatten mir so viel nackte Männer dabei zugeschaut. Es wäre übertrieben zu behaupten, dass wir das Gespräch miteinander suchten, aber wir gingen ihm auch nicht aus dem Weg. Lustig wurde es immer, wenn die Rede auf die schönen, reichen, geilen Weiber kam, die uns jeden Moment beehren würden. Jetzt schwiegen wir. Nur die Umwälzpumpe am Pool ließ sich vernehmen.

Achtzehn Uhr. Das Nickerchen auf einem der verschwiegenen Lotterbetten hatte mir gutgetan. Ich gesellte mich wieder zu den Lustknaben an der Bar. Sie schlossen Wetten ab, wie viele Frauen wohl kommen würden. Der Geschäftsführer tippte Zero. Das machte mich stutzig. Am optimistischsten war Ralf, Setzer von Beruf. Er setzte auf die Dreizehn.

Ferdi bat in den Garten zum Grill. Der ständige Blick auf den Monitor, der ein Bild vom Eingangsbereich zeichnete, hatte hungrig gemacht. Die Steaks waren großartig. Ferdis Neunjähriger kam vorbei und schwärmte von seiner Geburtstagsparty, die er vor einigen Tagen hier im Garten mit den Mädels vom Klub gefeiert hatte. Irgendwie wurde ich den Eindruck nicht los, dass wir ihm leidtaten in unseren Turnhöschen und den Rippelhemden.

Plötzlich kam Bewegung in die Runde. Es hatte geläutet. Wir stürmten die Barhocker und starrten auf den Monitor. Ein unbekanntes Menschenobjekt! Ferdi öffnete, fünf von uns sprangen in den Pool.

“Darf ich vorstellen”, hörten wir den Geschäftsführer sagen, “das hier ist Bernd aus Hannover. Er wird uns tatkräftig unterstützen”.

Einundzwanzig Uhr. Uns war klar, dass die Frauen in diesen Minuten letzte Hand an sich legten, ihr Geld zählten und freudig erregt herbeieilten. Michael telefonierte mit seiner Freundin, es würde etwas später werden, seiner Mutter ginge es nicht gut.

“Wenn in einer halben Stunde keine gekommen ist, hau ich ab”, sagte er, nachdem er aufgelegt hatte.

“Das würde ich nicht tun”, gab Ferdi zu bedenken, „”plötzlich kommt ‘ne ganz Gestopfte und du schaust in die Röhre!”

Ein ohrenbetäubender Lustschrei drang an unsere Ohren. Björn stand auf der Wippe über dem Pool und trommelte sich auf die Brust.

“Scheiße”, sagte Manfred, “ich hätte schon gerne eine durchgezerbelt”.

Tarzan sprang in die Fluten. Als er auftauchte, erwischte ihn die Wippe am Hinterkopf. Platzwunde. Wir hatten unseren ersten Verletzten.

Dreiundzwanzig Uhr. Der Flachs blühte. Längst genehmigten wir uns den einen oder anderen Drink, auch wenn es der Kondition schadete. Manfred erzählte von seinen Erlebnissen im Landpuff. Die Spannung war raus. Die Frauen, die heute nicht gekommen waren, taten uns leid. Wir wären eine so angenehme Gesellschaft gewesen.

Gegen drei Uhr morgens zahlten wir unsere Getränke (Hauspreise) und verabredeten uns für nächsten Sonntag zur zweiten Schicht. Sorry, Jungs, dass ich nicht gekommen bin. Tut mir leid, dass ich unser unschuldiges Tun an die Öffentlichkeit zerre. Von irgendetwas muss man ja leben. Auf Frauen ist bekanntlich kein Verlass …

PS: Die versprochene Reportage konnte ich dem Playboy nach dieser Erfahrung nicht liefern, aber ich schrieb auf, was mir an dem Abend passiert war. Das wollte die Redaktion nicht. Ich verkaufte den Text daraufhin an die “Szene Hamburg” für läppische 200 Mark. Dort entdeckte ihn Michael Haller, der an der Journalistenschule lehrte und gerade ein Buch mit dem Titel “Die Reportage” schrieb, in dem er zeigen wollte, wie die journalistische Königsdisziplin zurückgewonnen und zu neuer Geltung gebracht werden kann. Der “Callboy im Puff Paradox” sollte den Studenten als Beispiel dienen, wie man auch aus wenig sehr viel machen kann. Viel Geld war nicht gemeint …


Foto: Dimitar Belchev (Unsplash.com)

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Die nackte Wahrheit

“Wenn sie einen Schmutzfinken wie mich schützen, dann schützen sie euch alle.” (Larry Flynt)

Dirk C. Fleck (Jahrgang 1943) ist freier Journalist und Autor aus Hamburg. Er machte eine Lehre als Buchhändler, besuchte danach in München die Deutsche Journalistenschule und absolvierte Mitte der 1960er ein Volontariat beim „Spandauer Volksblatt Berlin“. 1976 siedelte er wieder nach Norddeutschland über und arbeitete bei der „Hamburger Morgenpost“, wo er Lokalchef wurde. Später war er Chefredakteur des „Hanse-Journal“, Reporter bei „Tempo“ und Redakteur bei „Merian“. Er arbeitete im Auslandsressort der Wochenzeitung „Die Woche“ und schrieb ab Mitte der 90er Jahre als freier Autor und Kolumnist für Tageszeitungen (u.a. Die Welt) und Magazine wie zum Beispiel Stern, GEO und Spiegel. Seit den 1980ern setzt er sich journalistisch mit den ökologischen Folgen der zügellosen kapitalistischen Wirtschaftsweise auseinander und verarbeitet seine Erfahrungen, Überlegungen und Recherchen in Romanen. Das Buch „Palmers Krieg“ erschien 1992 und beschäftigt sich mit der Geschichte eines Ökoterroristen. „GO! Die Ökodiktatur“ (1993) ist eine Auseinandersetzung mit den Folgen des Ökozid. Außerdem erschienen von Dirk C. Fleck die Bücher „Das Tahiti-Projekt“ (2008), „MAEVA!“ (2011), „Die vierte Macht – Spitzenjournalisten zu ihrer Verantwortung in Krisenzeiten“ (2012) und „Feuer am Fuss“ (2015).

Von Dirk C. Fleck

Dirk C. Fleck (Jahrgang 1943) ist freier Journalist und Autor aus Hamburg. Er machte eine Lehre als Buchhändler, besuchte danach in München die Deutsche Journalistenschule und absolvierte Mitte der 1960er ein Volontariat beim „Spandauer Volksblatt Berlin“. 1976 siedelte er wieder nach Norddeutschland über und arbeitete bei der „Hamburger Morgenpost“, wo er Lokalchef wurde. Später war er Chefredakteur des „Hanse-Journal“, Reporter bei „Tempo“ und Redakteur bei „Merian“. Er arbeitete im Auslandsressort der Wochenzeitung „Die Woche“ und schrieb ab Mitte der 90er Jahre als freier Autor und Kolumnist für Tageszeitungen (u.a. Die Welt) und Magazine wie zum Beispiel Stern, GEO und Spiegel. Seit den 1980ern setzt er sich journalistisch mit den ökologischen Folgen der zügellosen kapitalistischen Wirtschaftsweise auseinander und verarbeitet seine Erfahrungen, Überlegungen und Recherchen in Romanen. Das Buch „Palmers Krieg“ erschien 1992 und beschäftigt sich mit der Geschichte eines Ökoterroristen. „GO! Die Ökodiktatur“ (1993) ist eine Auseinandersetzung mit den Folgen des Ökozid. Außerdem erschienen von Dirk C. Fleck die Bücher „Das Tahiti-Projekt“ (2008), „MAEVA!“ (2011), „Die vierte Macht – Spitzenjournalisten zu ihrer Verantwortung in Krisenzeiten“ (2012) und „Feuer am Fuss“ (2015).

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