Der Überhitzung folgt die Erschlaffung. Die Befindlichkeit dessen, was als öffentliche Meinung bezeichnet werden muss, ähnelt einer Wetterlage, wie sie in der letzten Zeit nicht untypisch ist: Drückende Hitze, heftige Entladung, Abkühlung und erneute Aufladung.
Insofern ist das, was als Volkspsyche oder um dem Zeitgeist eine Referenz zu erteilen, bundesrepublikanische Populationspsyche beschrieben werden kann, näher an den Naturphänomenen, als manchen lieb sein kann. Denn die menschliche Zivilisation zeichnet sich auch dadurch aus, dass sie in der Lage ist, von den minutiösen Gegebenheiten ihrer materiellen Bedingungen zumindest temporär abstrahieren zu können.
Der Blick, der dadurch entsteht, ermöglicht es, eine nicht durch Emotionen oder eigene Befindlichkeiten getrübte Betrachtungsweise zu erlangen, die durch Rationalität geprägt ist. Problematisch nur wird es, wenn die Rationalität, das Maß für gesellschaftliche Zustände seit der Aufklärung keine sonderliche Wertigkeit mehr besitzt.
“Wir sind divers, aber eine homogene Gruppe …”
Bei der Betrachtung der seit langer Zeit vorherrschenden Gemütslage fällt gerade dieses Phänomen auf. Es sind kaum noch Zeichen vorhanden, die darauf hindeuten, dass die Rationalität im gesellschaftlichen Diskurs oder den Fragmenten, die davon übrig geblieben sind, in irgendeiner Weise vermisst wird. Ganz im Gegenteil: Der Verweis auf diesen Missstand erntet in der Regel Spott und Häme.
Welcher ahistorische, uncoole Kretin kommt denn da auf die Idee, von den eigenen, durch Subjektivität geprägten Interessen zu abstrahieren und sich mit dem Metier des sozialen Zusammenlebens und der sozialen Interaktion mit anderen Gesellschaftsformen auseinanderzusetzen?
Wir sind divers, aber eine homogene Gruppe, die unabhängig von Sozialstatus und politischem System, frei von Gesellschaftsform und allgemein gültigen Normen gesteuert wird von Werten, die genauso diffus und divers sind wie diejenigen, die vorgeben, zu wissen, worin der Schlüssel zu gutem, nicht vernünftigem Handeln liegt.
Der Wunsch nach Erlösung
Es sind die Maximen des Obskurantismus, die sich Bahn gebrochen haben. Im Obskurantismus herrschen Gefühle wie Angst und der Wunsch nach Erlösung und eine Dynamik, die dem Sektierertum entspringt.
Die Gabe zur Differenzierung wird als Subversion abqualifiziert und die Frage nach Interessen als Anachronismus aus einer überkommenen Zeit disqualifiziert. Wohl dem, der sich dieser dem Mystizismus verschriebenen Bewegung verschrieben hat und wehe dem, der sich nach den alten, antiquierten Prinzipien von Vernunft und Logik zurücksehnt. Ihm wird heimgeleuchtet in das Refugium der Verblendung und virtuos praktizierten gesellschaftlichen Spaltung.
Eine Erklärung für die Panik, die in der Zurückweisung rationaler analytischer Betrachtungsweisen liegt, kann in der Urangst gesucht werden, dass das eigene Reich der Deutungshoheit eben durch jene Mittel bedroht wird und zusammenstürzen wird wie das berüchtigte Kartenhaus, sobald die zersetzende, subversive Kraft des kühlen Kopfes die Oberhand gewönne. Darum geht es.
Überhitzung und Entladung
Es wird viel gestritten, wie der Hysterisierung der Verhältnisse begegnet werden kann. Eine Fraktion ist der Auffassung, man müsse von innen heraus versuchen, die Logik zurückzubringen. Das heißt, es sollten einige Positionen aus der sektiererischeren Programmatik, die von der Anlage her gar nicht so falsch seien, übernommen werden, um das Vertrauen als Bündnispartner herzustellen und von dort aus den Versuch unternehmen, die Vernunft zurückzubringen.
Dass das Kalkül nicht aufgeht, sieht man an den politischen Kräften, die diesen Versuch bis dato unternommen haben. Sie haben ihre eigenen Reihen mit der Überhitzung, der Emotionalität und der Hysterie infiziert und sind zu Schweiffedern der eigentlichen politischen Kraft des Obskurantismus verkümmert.
Mit Sekten, Sektenwesen und Hysterikern gibt es keine Gemeinsamkeit. Sie zu bekämpfen geht nur von außen. Unmissverständlich, klar und laut. Mit eigener Haltung und eigenem Vokabular. Schluss mit Überhitzung und Entladung. Wohl temperiert, mit klarem Kopf und konsequenter Haltung. Alles andere ist Illusion.
Foto: Wolfgang Hasselmann (Unsplash.com)
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Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.