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Zum Export westlicher Werte

Dass ausgerechnet die Teile der Welt, die heute nicht den Individualismus als zentrales Thema ihrer gesellschaftlichen Existenz begreifen, auf ein unendliches Journal der eigenen Ausplünderung und Demütigung durch die zivilisatorisch begründeten Imperien blicken, führt zu der Gewissheit, dass sich dort die Faszination westlicher Ideale in Grenzen hält.

Hochgerechnet auf die Weltbevölkerung sind die Gesellschaften, die sich der Entfaltung des Individuums verschrieben haben, mit ungefähr einem Zehntel zu beziffern. Das heißt nicht, dass im Rest der Welt der Einzelne und seine individuellen Rechte und Möglichkeiten keine Rolle spielen.

Aber es bedeutet, dass bei 90 Prozent der Weltpopulation eine Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft, wie immer dieses auch kulturell definiert ist, eine größere Rolle spielt als in den puristisch individualisierten Gesellschaften.

Die Perspektive ist deshalb von Bedeutung, weil sie die mentalen wie quantitativen Kräfteverhältnisse in der Welt beleuchtet und die Frage aufwirft, ob es den politischen Systemen, die das Individuum in den Mittelpunkt stellen, die Möglichkeit einräumt, dem überwältigenden Rest der Weltpopulation die eigenen Vorstellungen näherzubringen, geschweige denn, sie von der Überlegenheit des eigenen Systems zu überzeugen.

Das ideologische Transportmittel

Historisch hat es das immer wieder gegeben. Wirtschaftlich starke politische Gebilde, die nach Hegemonie strebten, die allerdings auch ständig humane und natürliche Ressourcen brauchten, um andere zu dominieren, vor allem wenn sie aufgrund der eigenen Verfügbarkeit von Potenzialen diesen Anspruch ohne Expansion nie hätten einlösen können. Das ging von Alexander dem Großen über das Römische Reich bis zum britischen Kolonialismus, seinen europäischen Derivaten und dem modernen Imperialismus.

Das ideologische Transportmittel für die Expansion reichte vom Wissen um den richtigen Gott bis hin zu dem Argument der Überlegenheit der eigenen Zivilisation und dem damit verbundenen politischen System. Der Ideologie, das heißt der Begründung der eigenen Überlegenheit, folgten immer gewaltsames Handeln und Krieg.

Dass ausgerechnet die Teile der Welt, die heute nicht den Individualismus als zentrales Thema ihrer gesellschaftlichen Existenz begreifen, auf ein unendliches Journal der eigenen Ausplünderung und Demütigung durch die zivilisatorisch begründeten Imperien blicken, führt zu der Gewissheit, dass sich dort die Faszination westlicher Ideale in Grenzen hält.

In Russland blickte gerade eine Nation auf den letzten Feldzug aus dem Westen mit eigenen 27 Millionen Opfern zurück, in China weiß jedes Kind, wie Hongkong als Folge eines von Großbritannien geführten Opiumkrieges in britische Hände kam.

Der Kongo blickt auf Sklaverei, Kinderhandel, Ressourcenraub und die Ermordung ihrer Politiker zurück, die die eigenen Interessen vertreten wollten, genauso wie der Iran und zahlreiche Länder in Südamerika. In Indonesien richtete die Sicherung der westlichen Suprematie ein Blutbad mit mehr als zwei Millionen Toten an, und in Indochina sind die Folgen der letzten Kriege in jeder Familie präsent. Die Liste ist nicht nur lang, sondern sie illustriert die Hypothek, die sich der selbst als Zivilisationsmacht sehende Westen in Jahrhunderten erarbeitet hat.

Werte und Subjektivismus

Wer in diesem Kontext glaubt, durch die Berufung auf die eigenen Werte, die übrigens durch das Anwenden doppelter Standards aktuell täglich kontaminiert werden, im Rest der großen, weiten Welt Punkte sammeln zu können, ist ein Opfer sensorischer Isolation und eines als pathologisch zu bezeichnenden Subjektivismus.

Und wer dann noch der Auffassung ist, dass notfalls die reklamierten Werte durch martialisches Gebaren, Anwendung von Gewalt und Kriege in die des Kolonialismus und Imperialismus überdrüssigen Länder dieser Welt transportiert werden könnten, hat seine Zurechnungsfähigkeit eingebüßt.

Die Mordlust des Kolonialismus ist entlarvt und die Schätze, die immer wieder zu solchen Manövern locken, liegen nicht mehr ungeschützt in der Sonne. Wer jetzt auf Beutezug geht, wird sich eine blutige Nase holen, wobei die Metapher verharmlosend ist.

Es ist ratsam, Bilanz zu ziehen und das Ende der Kolonisierung der Welt zu akzeptieren. Wer jetzt mit dem Säbel rasselt, hat die Gunst der Stunde nicht begriffen. Angesichts der globalen Existenzbedingungen ist das Zeitalter der Kooperation längst angebrochen. Und ohne das große Ganze bleibt selbst dem Individuum das Glück versperrt.


Foto: Mary J. Friedrich (Unsplash.com)

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Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

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