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Dum Tacet Clamat: Wer schweigt, spricht!

Ist das Schweigen der Mehrheit Ablehnung? Ist es Zustimmung? Ist es Desinteresse? Versteht sie die Redenden nicht mehr? Oder nimmt sie Letztere gar nicht mehr ernst? Jede Antwort ist für das Fortbestehen des politischen Systems essenziell und bis auf den Fall der Zustimmung als Resultat eine Katastrophe.

Mit der Interpretation menschlicher Verhaltensweisen ist das so eine Sache. Zu oft zieht man zu schnell Schlüsse, die sich als falsch herausstellen, weil doch mehr zum Entschlüsseln gehört als ein einziger Blick, ein Gestus oder ein traditionell eingespieltes Verständnis.

Gut zu erschließen ist die These bei einem Beispiel, das sich täglich wiederholt und sich ebenso oft als falsch interpretiert herausstellt. Da erzählt ein Mensch einer Gruppe, vor der er steht, etwas, und die Gruppe schweigt. Was bedeutet das? Viele würden gleich sagen, dass das Ablehnung bedeutet, weil wir hier, in unserem Kulturkreis, auch noch so eine Formulierung wie “eisiges Schweigen” haben. In vielen Ländern des Ostens aber, da wäre Schweigen eine wohlwollende Zustimmung.

Manchmal, bleiben wir wieder hier, kann das Schweigen aber auch bedeuten, dass das Gehörte kaum verstanden wurde, man sich aber nicht traut, dieses anzusprechen, und es kann auch erklären, dass die Gruppe den Menschen, der zu ihr redet, gar nicht mehr ernst nimmt.

Anwendung auf die politische Lage

Allein an diesem Beispiel wird deutlich, wie kompliziert es doch ist. Um menschliches Verhalten richtig lesen zu können, dazu bedarf es nicht nur eines wachen Auges, sondern auch eines Wissens um die Umstände, die Gepflogenheiten und um die Atmosphäre, in der es stattfindet. Und weil das gewählte Beispiel so bekannt ist und wir alle wissen, worum es geht, wenden wir es einmal auf die Lage an, in der wir uns alle befinden, nämlich die politische.

Denn politische Wesen sind wir alle, ob wir es wollen oder nicht. Denn wir leben in einer Gemeinschaft, auch wenn dieses der eine oder die andere bereits vergessen hat. Und jegliche Kommunikation über den Zustand und das Vorgehen der Gemeinschaft ist Politik.

Nun fragen sich viele Menschen, wenn sie die Angelegenheit der Gemeinschaft oder um in der richtigen Terminologie der Staatskunde zu bleiben, wenn sie res publica, die Sache der Öffentlichkeit (1) betrachten, warum so viele Menschen sich nicht mehr zu Wort melden, während andere wenige sich im Dauerschreizustand befinden und den Eindruck erwecken, es ginge heiß her im politischen Diskurs. Getragen von der Aufmerksamkeit, die die öffentlichen Medien und die digitalen Netzwerke genießen, könnte man tatsächlich zu dem Schluss kommen, wir lebten in wilden Zeiten der politischen Debatte.

Dum Tacet Clamat: Wer schweigt, spricht!

Rein quantitativ stimmt das jedoch nicht. Die große Mehrheit hat sich aus dieser Art der politischen Interaktion längst verabschiedet, ohne dass sie es aufgegeben hätte, sich einen eigenen Standpunkt zu entwickeln. Nur, und das ist das, was viele noch besorgen, ja überraschen wird, sie schweigen. Sie schweigen quasi ohrenbetäubend. Denn wenn das, was wir tatsächlich vernehmen, politischer Diskussion Krach ist, dann wird das, was sich momentan durch das Schweigen einer Mehrheit nicht artikuliert, ein tatsächliches Donnerwetter werden.

Die eingangs gestellte Frage stellt sich in diesem gesellschaftlich hochbrisanten Fall von Neuem: Ist das Schweigen der Mehrheit Ablehnung? Ist es doch Zustimmung? Ist es Desinteresse? Versteht sie die Redenden nicht mehr? Oder nimmt sie Letztere gar nicht mehr ernst?

Egal zu welchem Schluss man kommt, keiner kann befriedigen und keiner kann dazu führen, dass man zurück zur Tagesordnung geht. Denn jede Antwort ist für das Fortbestehen des politischen Systems essenziell. Und bis auf den Fall der Zustimmung als Resultat eine Katastrophe.


Quellen und Anmerkungen

(1) Der lateinische Begriff res publica (wörtlich: “öffentliche Sache” oder “öffentliche Angelegenheit”) meint ursprünglich die Römische Republik und steht in der Gegenwart allgemein für die Staatsform der Republik oder Staat.


Foto: Keenan Beasley (Unsplash.com)

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Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

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