Am 28. Juli war über einen Streit zu lesen, der sich an der Art und Weise entbrannte, wie von offizieller Gewerkschaftsseite die Ära Merkel bewertet wurde. Summa summarum war dem zu entnehmen, dass ein Großteil der deutschen Gewerkschaften und ihre sie vertretenen Funktionäre eine gar nicht so schlechte Bilanz zogen. Sie sprachen von Mindestlöhnen in verschiedenen Branchen und der einen oder anderen Verbesserung.
Andere Stimmen klangen da weitaus kritischer, sie hatten das insgesamt in der Bundesrepublik gesunkene Lohnniveau und die drastisch zurückgegangene tarifliche Bindung vieler Arbeitsverhältnisse im Blick.
Worauf sich die offiziellen Stimmen aus dem Gewerkschaftslager beziehen, sind allerdings keine Ergebnisse, die aus konkreten Aktivitäten gewerkschaftlicher Organisation abzuleiten gewesen wären, sondern Resultat von Regierungshandeln, das auf die Mitgliedschaft der SPD zurückzuführen ist. Das ging bis hin zu Mindestlöhnen in bestimmten Niedriglohnbranchen wie zum Beispiel der Zustelldienste.
Schlaflose Nächte
Kritisch sei bemerkt, dass an dieser Stelle der Regierung zu danken ist, sie jedoch, auch das sei angemerkt, auf einem Terrain aktiv wurde, wo sie nichts zu suchen hat. Sie konnte dies, weil dort gewerkschaftliche Organisation nicht mehr stattfand und folglich die den Gewerkschaften vorbehaltenen Kämpfe um bessere Bezahlung und Arbeitsbedingungen nicht zu verbuchen waren. Konsequenz waren “Wohlfahrtsaktivitäten” seitens der Regierung.
Die Ursachen jedoch, die zu diesen Maßnahmen seitens der Regierung geführt haben, sollten nicht dazu führen, wie geschehen, sich selbstzufrieden zurückzulehnen, sondern sich in schlaflosen Nächten Gedanken darüber zu machen, wie es weitergehen soll. Vorteile oder sind wir ehrlich, geringere Nachteile sind nur dann von Wert, wenn sie aus eigenem Handeln entstanden sind. Und genau das ist nicht der Fall.
Da sonnen sich Funktionäre einer einstmals machtvollen Organisation angesichts eines Regierungshandelns, das nichts mit ihrer eigenen Aktivität zu tun hat und das zudem dazu geführt hat, dass dieses Regierungshandeln zu keinerlei Honorierung durch die Wählerschaft führte.
Bilanz, Niedergang, Gestank
Die tatsächliche Bilanz zu Ende der Ära Merkel sieht nämlich anders aus: Die Koalitionspartei hat mächtig Federn gelassen und die Gewerkschaften, ohne die zu Beginn dieser Ära quasi kaum etwas ging, wird in der Öffentlichkeit kaum noch als existent wahrgenommen. Sie laufen in den öffentlichen Diskussionen um allgemein politische Themen dem vermeintlichen Konsens eifrig nickend hinterher und konkrete Kämpfe, aus denen merkliche Verbesserungen resultieren, finden nicht mehr statt. Wer das als Erfolg feiert, besiegelt den Niedergang. Und das in einer Zeit, die durch den Neoliberalismus tief kontaminiert ist!
Und manchmal sind es Assoziationen, die das beste Licht auf das Ereignis werfen. Als ich am Morgen Artikel über die Auseinandersetzung las, fiel mir eine Episode ein, die vom Zeitrahmen her ungefähr zum Beginn der Ära Merkel passte.
In einer Tarifrunde des öffentlichen Dienstes hatten die Arbeitgeber ein Angebot vorgelegt, dass weit von den Vorstellungen der Gewerkschaften abwich. Die Folge waren Urabstimmung und Streik. Es war ein langer Streik, bei dem auf kommunaler Ebene vor allem die damals noch so genannte Müllabfuhr eine wichtige Rolle spielte. Es dauerte Wochen, der Müll sammelte sich auf den Straßen. Die Unternehmen in der Innenstadt beschwerten sich vehement über den Unrat, der überall herumlag und den Gestank, der davon ausging.
“Wenn Sie den Straßenkampf wollen, …”
Der damalige Oberbürgermeister zitierte diesen Unmut in einer Verhandlung mit den kommunalen Gewerkschaftsvertretern und kündigte an, er werde aus diesem Grund zumindest in den innerstädtischen Geschäftsbezirken private Unternehmen beauftragen, um den Müll zu entsorgen.
Die Antwort des Personalratsvorsitzenden wird bis heute viel zitiert, weil sie ein Licht auf das wirft, was in der Ära Merkel verloren gegangene ist. “Wenn Sie den Straßenkampf wollen, Herr Oberbürgermeister, dann machen Sie das!“ Er tat es nicht. Der Arbeitskampf galt als einer der erfolgreichsten.
Foto: Markus Spiske (Unsplash.com)
Leseempfehlung
Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich schnell in Arbeit komm!
Ein Aufklärungsversuch zur Debatte über Hartz IV, Grundeinkommen, neue Regelinstrumente zur Arbeitsbeschaffung und das Dasein “in Arbeit”.
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.