Ich schaue mir die Eröffnungsfeier der Olympiade in Tokio an. Die Athleten marschieren ein, jetzt ist Madagaskar dran. Die Teilnehmer tragen Masken wie die Sportler zuvor und die, die nach ihnen kommen werden. Die Ränge im Stadion sind verwaist und dennoch winken die Olympiateilnehmer dem imaginären Publikum zu, als seien sie vom Dämon der Fröhlichkeit besessen. Gespenstisch. Dieses Szenario ist weltweit zu sehen. Milliarden Menschen wird eine neue Normalität vorgeführt, der sie nicht mehr entfliehen können.
Kaum zu fassen, in welch affenartigem Tempo die Menschheit mutiert. Da bleiben einem wenig Rettungsringe. Die liegen zumeist in der Vergangenheit. Erich Kästner (1899 – 1974) zum Beispiel. Nicht sehr tröstlich, aber auf den Punkt gebracht. Ein Geistesbruder. Tut einfach gut:
Die Zeit ist viel zu groß, so groß ist sie. Sie wächst zu rasch. Es wird ihr schlecht bekommen. Man nimmt ihr täglich Maß und denkt beklommen: So groß wie heute war die Zeit noch nie. Sie wuchs. Sie wächst. Schon geht sie aus den Fugen. Was tut der Mensch dagegen? Er ist gut. Rings in den Wasserköpfen steigt die Flut. Und Ebbe wird es im Gehirn der Klugen. Der Optimistfink schlägt im Blätterwald. Die guten Leute, die ihm Futter gaben, sind glücklich, daß sie einen Vogel haben. Der Zukunft werden sacht die Füße kalt. Wer warnen will, den straft man mit Verachtung. Die Dummheit wurde zur Epidemie. So groß wie heute war die Zeit noch nie. Ein Volk versinkt in geistiger Umnachtung. — Erich Kästner (Große Zeiten, 1931)
Das merkwürdige an dieser melancholischen Bruderschaft, zu der Kästner gehört und zu der ich mich auch zähle, ist, dass ihre Mitglieder unangetastet bleiben, obwohl sie doch Zeugen all der Tränen, Ängste, Missverständnisse und Vergewaltigungen, Zeugen für das gesammelte Aufgebot gegen die Lebensfreude werden. Es sollte doch zumindest die Kunst von den Menschen erfasst werden, jetzt, da sie von der Magie des Todes befruchtet wird. Aber das Gegenteil ist der Fall. Nichts ist verdächtiger als die Wahrheit, die in der Kunst zu Hause ist – und so hält man sich in heuchlerischer Distanz zu ihr.
Da fällt mir ein Dialog aus dem Film “Schatten der Schuld” ein, mit einem großartigen Nick Nolte in der Hauptrolle:
“Ich habe gleich gespürt, dass Sie zur Bruderschaft gehören.”
“Zu welcher Bruderschaft?”
“Zur Bruderschaft der verwundeten Seelen. Das ist die größte Organisation der Welt und das irre ist, dass die Mitglieder absolut unfähig sind, miteinander zu reden.”
Wer mit der Analyse dieses aberwitzigen Treibens einer durchgeknallten Finanz- und Politelite abgeschlossen hat, wer sein Empörungspotenzial erschöpft hat und sich nun dem wirklichen Leben zuwendet, wünscht sich plötzlich, dass andere Menschen dasselbe sehen sollen wie er selbst. Warum? Weil wir noch eine Weile leugnen, dass unser Leben eine Insel im Ozean der Einsamkeit ist, wie Khalil Gibran (1883 – 1931) es formulierte.
“Irgendwann bin ich angesichts all des Leides in der Welt, das mir im Laufe der Jahre begegnete, zusammengebrochen”, schrieb Albert Camus (1913 – 1960). “Ich litt, war verzweifelt und wollte sterben. Bis ich begriff, dass wir nur überleben können, wenn wir uns aus der Sklaverei der Gegebenheiten befreien, und beginnen, endlich aus unserer lähmenden Zuschauerlethargie auszubrechen, selbst aktiv, und zu Schöpfern werden.”
Inzwischen habe ich eine Nacht geschlafen, ARD und ZDF senden Olympia rund um die Uhr. Bogenschießen, Fechten, Tischtennis. In den alternativen Medien wird weiterhin fast ausschließlich über den Corona-Wahnsinn berichtet und debattiert. Dabei fällt mir der Gedanke 249 aus meinem Buch La Triviata ein:
“Ein Staat, der heute wieder offizielle Hetze betriebe, könnte seine potenziellen Opfer nach einiger Zeit genauso problemlos und offen einsammeln, wie die Nazis es mit ihren Gegnern taten. Hass, wenn er durch die Politik geadelt wird, hat seine vordergründige Ästhetik und verfehlt die Wirkung auf die Menschen nicht. Wie eine Blähung wächst er im ‘Volkskörper’ heran. Der Staat ist dann nichts als ein Viehdoktor, der sein Rohr mit aller Billigung in die Kolik rammt.”
Das Buch wurde 1985 geschrieben.
PS: Immer mehr Menschen in meinem Umfeld lassen sich nun doch impfen. Sie befürchten, und das zu Recht, dass ihnen als Impfverweigerer demnächst wesentliche Grundrechte vorenthalten werden könnten. Das problemlose Stigmatisieren Andersdenkender hat bereits begonnen, da heißt es dann ganz schnell: Impfe sich wer kann!
Redaktioneller Hinweis: Der Beitrag von Dirk C. Fleck erschien unter der Überschrift “Wem winken die zu?” bei KenFM und wurde auf Neue Debatte zweitveröffentlicht. Einzelne Absätze wurden zur besseren Lesbarkeit im Netz hervorgehoben.
Foto: Joshua Coleman (Unsplash.com)
Leseempfehlung
Für die Proletarisierung des Fußballs!
Da Fußball ein derartig großes Feld – sowohl historisch, politisch, kulturell als auch medial – darstellt, kann selbstverständlich keine Garantie auf Vollständigkeit gegeben werden; dies würde den Rahmen sprengen. Ich hoffe aber, rudimentäre Einblicke in die wohl beliebteste “Monarchie” weltweit zu ermöglichen: König Fußball.
Dirk C. Fleck (Jahrgang 1943) ist freier Journalist und Autor aus Hamburg. Er machte eine Lehre als Buchhändler, besuchte danach in München die Deutsche Journalistenschule und absolvierte Mitte der 1960er ein Volontariat beim „Spandauer Volksblatt Berlin“. 1976 siedelte er wieder nach Norddeutschland über und arbeitete bei der „Hamburger Morgenpost“, wo er Lokalchef wurde. Später war er Chefredakteur des „Hanse-Journal“, Reporter bei „Tempo“ und Redakteur bei „Merian“. Er arbeitete im Auslandsressort der Wochenzeitung „Die Woche“ und schrieb ab Mitte der 90er Jahre als freier Autor und Kolumnist für Tageszeitungen (u.a. Die Welt) und Magazine wie zum Beispiel Stern, GEO und Spiegel. Seit den 1980ern setzt er sich journalistisch mit den ökologischen Folgen der zügellosen kapitalistischen Wirtschaftsweise auseinander und verarbeitet seine Erfahrungen, Überlegungen und Recherchen in Romanen. Das Buch „Palmers Krieg“ erschien 1992 und beschäftigt sich mit der Geschichte eines Ökoterroristen. „GO! Die Ökodiktatur“ (1993) ist eine Auseinandersetzung mit den Folgen des Ökozid. Außerdem erschienen von Dirk C. Fleck die Bücher „Das Tahiti-Projekt“ (2008), „MAEVA!“ (2011), „Die vierte Macht – Spitzenjournalisten zu ihrer Verantwortung in Krisenzeiten“ (2012) und „Feuer am Fuss“ (2015).
Eine Antwort auf „Große Zeiten: Wem winken die zu?“
Hoffmann von Fallersleben, 1798 – 1874 :
Nicht Mord, nicht Bann, noch Kerker nicht Standrecht obendrein
es muß noch stärker kommen soll es von Wirkung sein.
Ihr müßt zu Bettlern werden
müßt hungern allesamt
Zu Mühen und Beschwerden verflucht sein und verdammt
Euch muß das bißchen Leben so gründlich sein verhaßt
daß Ihr es fort wollt geben wie eine Qual und Last
Erst dann vielleicht erwacht noch in Euch ein besserer Geist
Der Geist, der über Nacht noch, Euch hin zur Freiheit heißt.