Der Wunsch, sich für eine gewisse Zeit auf das Wesentliche konzentrieren zu können, ist in Zeiten, in denen die Weichen gestellt werden, besonders groß. Schwierig wird es, wenn verschiedene Szenarien nebeneinander spielen, die nicht nur komplex sind, sondern auch jede Menge Aufregung auslösen. Dann ist es schwer, zur Konzentration zu finden.
Nun stellt sich generell die Frage, ob im bereits gut angebrochenen dritten Jahrtausend Wahlen in der westlichen Welt tatsächlich noch einen Moment darstellen, in dem Weichen gestellt werden. Denn sieht man sich die dort konkurrierenden Parteien genauer an, dann haben sie eines gemeinsam: Sie sind in dem Bestehenden verhaftet und bringen es nicht über sich, radikal zu denken. Letzteres ist jedoch Voraussetzung, wenn Weichen nicht nur gestellt werden sollen, sondern müssen.
Katastrophen existieren genug. Die Globalisierung, so wie sie kolportiert wird, hat vieles mit sich gebracht, was die bisherige menschliche Existenz bis ins Mark erschüttert:
- immer wieder Kriege, bei denen es um den Zugriff auf Ressourcen geht,
- Epidemien, die zumindest in Fluggeschwindigkeit um den Erdball getragen werden,
- Naturkatastrophen, die mit der Art und Weise wie produziert, wie konsumiert und wie verteilt wird zu tun haben und
- Migration, die durch Krieg, soziale Armut und durch klimatische Veränderungen ausgelöst wird.
Allein diese Faktoren zeigen, dass es nicht nur sehr komplex ist, sondern auch, wie dürftig die Konzepte sind, die sich hier und heute in parlamentarischen Wahlen zur Disposition stellen.
Das Wesentliche und die Dilettanten mit Kapitänsmütze
Es sei jedem anheimgestellt, die Faktoren Krieg, Gesundheit, Armut und Natur anhand der vorliegenden Bilanzen wie Konzepte der konkurrierenden Parteien genau zu betrachten. Wer dies macht, so die Prognose, wird über kurz oder lang in eine tiefe Depression fallen, weil eine Perspektive, die den Frieden sichert, die ein auskömmliches Gesundheitssystem garantiert, die den astronomischen Reichtum mit gesellschaftlichen Verpflichtungen konfrontiert und die die Existenzbedingungen der ganzen Gattung im Auge hat, nicht zu finden ist.
Die Symptome, die das Leid auf dem Planeten illustrieren, sind so deutlich und groß, dass sie zwar nicht mehr geleugnet werden können, aber die Konsequenz aus einer dem Ausmaß gerecht werdenden Weise liegt nicht vor.
Und selbst die einzelnen Quellen der Fehlentwicklung werden zum Teil geleugnet: die einen halten die Kriege für Sperrfeuer anderer Bösewichter, mit denen man selbst nichts zu tun habe, für andere ist die soziale Armut nur eine Schimäre, dritte zweifeln an den Reaktionen der Natur auf das einem russischen Roulette gleichenden Produzieren, andere wiederum behaupten, die Gesundheit sei in besten Händen und wiederum andere sehen in der millionenfachen Migration den Sozialneid derer, die sich da auf den Weg machen. Manche gehen sogar so weit, dass sie alles leugnen und behaupten, dass sich alles zum Besseren wende, seien sie nur an der Macht und nicht die jetzigen Dilettanten.
Hauptsache Kapitänsmütze
Ja, in Momenten, in denen Weichen gestellt werden müssen, ist es unbedingt erforderlich, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Das Wesentliche, und das ist die gute Nachricht, ist durchaus bekannt. Wie damit zu verfahren ist, das heißt, mit welchen Konzepten zukünftige Politik gestaltet werden muss, in vielen Fällen nicht. Doch darum geht es. Die Rhetorik, gespeist durch Empörung und die Überhöhung des eigenen Egos, mit der das Nichtssagende vorgetragen wird, gleicht einem Ball Paradox: Keine Lösung vor Augen, kein Kurs im Sinn, aber die Kapitänsmütze beanspruchen (1).
Quellen und Anmerkungen
(1) Das 1948 gegründete Tanzlokal “Café Keese” auf der Hamburger Reeperbahn wurde bundesweit bekannt durch den Ball Paradox. Dabei forderten die Frauen die Männer zum Tanz auf. Dies war für die damalige Zeit äußerst ungewöhnlich, aber auch dem Umstand geschuldet, dass es durch Kriegsgefallene und -gefangene mehr alleinstehende Frauen als Männer gab.
Foto: Danielle Barnes (Unsplash.com)
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Die Wirtschaft liefert jeden Tag Schablonen der Verrohung. Ganze Branchen stehen exemplarisch für die Versklavung und Ausbeutung von Menschen, die Zerstörung der Natur und für übelste Tierquälerei. Dieses Treiben wird niemand durch warme Worte, Lichterketten, Protestmärsche, Verordnungen, Geld- oder Haftstrafen unterbinden – und noch nicht einmal durch pure Gewalt. Sie brauchen viel extremere Mittel: einen Systemwechsel.
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
Eine Antwort auf „Das Wesentliche: Weichen stellen oder Ball Paradox“
“Denn sieht man sich die dort konkurrierenden Parteien genauer an, dann haben sie eines gemeinsam:”
Wenn ich mir die Plakate (zu Fernseh-Wahlwerbung kann ich nichts sagen) ansehe, scheint es mir eher um die Wahl einer Werbeagentur zu gehen. Manche Plakate sind sich so ähnlich, dass vielleicht unterschiedliche Teams ein und derselben Agentur zur Wahl stehen. Bisher habe ich noch kein Plakat gesehen, dass in die Nähe von Corona oder Krieg käme; Konkret war nur eines der LINKEN, das die (Wieder-)Einführung der Vermögenssteuer fordert, vor dem Hintergrund eines Arms mit Rolex am Handgelenk. Allerdings bezweifle ich, dass die Champagner-Sozialisten – selbst mit absoluter Mehrheit – den Mut für so etwas gewagtes fänden, höchstens für eine 5%-Sondersteuer auf Luxus-Uhren mit so großen Schlupflöchern, dass eine Kuckucksuhr hindurch passen würde.