Das Portfolio ist klar umrissen. Die USA, auch unter Joe Biden, sind von ihrer außenpolitischen Doktrin nicht abgewichen. Regime-Change oder Subversion gegen die Konkurrenten. Das zeigt nun auch wieder der Fall Afghanistan.
Weg mit den schnöden Worten einer Wertevermittlung! Es geht um Macht und Einfluss. Dass von diesem Standpunkt auch Fehleinschätzungen ausgehen, beispielsweise, dass man in der Lage wäre, ein Land mit Gewalt zu befrieden, zeigen bereits viele Beispiele. Letztere, nehmen wir einmal Libyen, haben ein ebensolches Desaster hervorgerufen wie nun in Afghanistan.
Warum das Narrativ vom Demokratie-Export immer noch überall präsent ist, beantwortet nicht der kühle Verstand, sondern eine Presse, die mehrheitlich unreflektiert alles wiederkäut, was von Regierungsseite verlautbart wird. Wenn Afghanistan etwas deutlich zeigt, dann ist es die existenzielle Bedeutung von kritischen Gegenstimmen.
Franks Ehrlichkeit
Nun, da sich die Truppen zurückziehen, konzentriert sich die Berichterstattung nahezu exklusiv auf die dramatischen Szenen am Kabuler Flughafen. Nicht umsonst können alle, die sich an dem “War on Terror” beteiligt haben, ohne große Widerrede erzählen, der Einsatz sei richtig und vernünftig gewesen. Und vieles, was mit der Invasion in Afghanistan und der Jagd nach Al-Qaida zusammenhängt, bleibt wie immer im Dunkeln.
Letztendlich wurde Osama bin Laden nicht in Afghanistan, sondern im mit den USA auf gutem Fuß stehenden Pakistan zur Strecke gebracht. Ob das ohne Wissen des pakistanischen Geheimdienstes geschehen konnte, mag glauben, wer will. Im Grunde hat die Liquidierung Osama bin Ladens bereits die Begründung für die Invasion Afghanistans zunichtegemacht.
Der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler (1), seinerseits ein Mann der Finanzwelt, hatte in einem unbedachten Augenblick einmal von sich gegeben, in Afghanistan gebe es nicht nur den Terror, sondern auch Seltene Erden. Wenige Tage später war er nicht mehr im Amt. Da hatte jemand ein wichtiges Motiv, dass dem Narrativ vom Demokratie-Export widersprach, einem zu großen Publikum geflüstert, und schon war er sein Amt los.
Der heutige Bundespräsident, seinerseits Chef im Kanzleramt, als sich die damalige Bundesregierung entschied, mit in den Krieg am Hindukusch zu ziehen und dort die deutsche Sicherheit zu gewährleisten und die Demokratie zu verteidigen, formulierte an anderer Stelle, als er seinerseits bereits Bundespräsident war, den sprachlich fürchterlichen Satz, wir müssten uns alle ehrlich machen (2).
Was er oder sein Redenschreiber damit meinte, war ein Appell an die Redlichkeit. Ein solches Momentum sollte – gerade in diesem Augenblick – nicht verhallen. Es ist deutlich geworden, wie gleichberechtigt die Kooperation mit den USA tatsächlich ist, wie wenig deutsche und europäische Interessen dort ernst genommen werden, wie absurd es ist, durch Kriege die Demokratie nach westlichem Vorbild zu exportieren und wie viel noch übrig bleibt, wenn die Fassade einmal gefallen ist. Von dem humanistisch getränkten Narrativ gilt nichts mehr. Nicht das Wort, nicht die Redlichkeit, nicht die gute Absicht. Das, was der vermeintlich unverzichtbare Partner dort vorexerziert, ist die Perversion der eigenen Ideologie. Außer geostrategischer Lüsternheit bleibt da nicht mehr viel.
Beleidigung der Wahrheit
Wie wäre es, um bei der Redlichkeit zu bleiben, sich zu überlegen, wie eine Sicherheitspolitik aussehen müsste, die die eigene Verteidigung zum Zentrum hat und nicht kriegerische Interventionen auf allen Kontinenten. Wie wäre es, sich auf die Grundlagen einer Diplomatie zu besinnen, die sich auf das Austarieren gegenseitiger Interessen konzentriert und danach sucht, über politische und kulturelle Grenzen hinweg Formen der Kooperation zu finden? Der ständig wiederholte Sermon der lernresistenten Hardliner, die nichts im Kopf haben als Feindbilder, ist eine Beleidigung der Wahrheit.
Quellen und Anmerkungen
(1) Horst Köhler (Jahrgang 1943) war vom 1. Juli 2004 bis zu seinem Rücktritt am 31. Mai 2010 der neunte Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland. Von 2000 bis 2004 war er geschäftsführender Direktor des Internationalen Währungsfonds. Aktueller Bundespräsident ist Frank-Walter Steinmeier.
(2) Tagesspiegel (4.7.2017): “Wir müssen uns ehrlich machen” – ach ja? Auf https://www.tagesspiegel.de/kultur/steinmeiers-rede-zum-tag-der-einheit-wir-muessen-uns-ehrlich-machen-ach-ja/20411672.html (abgerufen am 26.8.2021).
Foto: MohammadO Shokoofe (Unsplash.com)
Leseempfehlung
Afghanistan, der Super-GAU?
Die US-Streitkräfte und ihre Verbündeten ziehen aus Afghanistan ab, die Taliban sind bereits in Kabul. Ist Afghanistan ein Super-GAU für die westliche Welt? Zweifel sind angebracht. In seiner neuen Podcast-Serie versucht unser Autor Klaus Hecker die Geschehnisse in die gesamtpolitische Lage einzuordnen.
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.