Am 24. August 2021 urteilten die deutschen Politiker im Bundestag unisono, dass das politische Konzept der USA und der NATO, Afghanistan auf den Pfad der repräsentativen Demokratie zu bringen, gescheitert sei. Der rund 20 Jahre geführte Kampf mit militärischen Mitteln endete mit einer menschlichen Tragödie.
Die Erkenntnis, dass Kriege ungeeignet zur Lösung von Konflikten sind, wurde der Welt erneut betätigt. Auch lösen Selbstmordattentäter oder bewaffnete Drohnen dauerhaft keine Konflikte. Das belegen gleichfalls die Erfahrungen aus den Kriegen im Irak, Libyen und Syrien. Die bange Frage, was dem 33-Millionen-Volk (1) in den kommenden Jahren bevorsteht, ist im Moment kaum zu beantworten.
Schnellstens wird eine arbeitsfähige Regierung gebraucht, die die Verwaltung der Wirtschaft, die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln, mit Elektroenergie und Wasser, Schulwesen et cetera ermöglicht. Das Land braucht einen intakten wirtschaftlichen Kreislauf; Arbeitsplätze zur sozialen Sicherstellung, Wertschöpfungsketten und Steuereinnahmen zur Finanzierung der staatlichen Aufgaben.
Für die internationale Zusammenarbeit wäre der Wille der neuen Regierung zur Einhaltung der Grundwerte der UNO und ihre schrittweise Einführung wünschenswert. Der Weg wäre das Ziel. Die volle Einhaltung der Menschenrechte sollte der Wegweiser sein. Die meisten Staaten, auch die großen Industrieländer, haben noch Defizite in der Einführung der Grundrechte (Art. 3, 5, 22, 23 der Charta der Menschenrechte).
Ein nächster Schritt wäre, das Wirtschaftsleben (als Grundkonstante jeder Gesellschaft) in Gang zu setzen und zu entwickeln. Die vom deutschen Außenminister verkündete Zurückhaltung der Entwicklungshilfe ist kontraproduktiv wie auch die Bremsen des IWF und der US-amerikanischen Notenbank zum Stopp von Auszahlungen. Damit wird im Stil eines “Weiter so” Druck auf die zu bildende Regierung ausgeübt; das beschädigt den Ruf als Rechtsstaaten.
Afghanistan braucht eigene Verarbeitungsstufen für seine Rohstoffe. Mit den Flüchtlingen verlassen wertvolle Fachkräfte das Land. Der Verlust ausgebildeter Menschen kann nur langfristig ausgeglichen werden und er kostet die Wirtschaft und die Regierung Geld.
Die gewaltigen Geldsummen, die während des Krieges eingesetzt wurden, haben die Wirtschaft Afghanistans nicht vorangebracht. Nach Medienberichten wurden zwei Billionen US-Dollar eingesetzt. Deutschland sei mit 12 Milliarden dabei. Die Gelder deckten die Militärkosten der NATO-Verbündeten und wurden für den Aufbau der afghanischen Armee sowie deren Ausstattung mit Militärtechnik verwandt. Alles wurde aus dem Ausland herbeigeschafft. Die Geräte sind nun bei den Taliban gelandet.
Investitionen in zivilen Bereichen (eine Eisenbahnlinie, Aufbau der Unterkünfte der Soldaten, Flugplätze, zuführende Straßen u. v. m.) wurden überwiegend von ausländischen Unternehmen ausgeführt. Die Chance, mit diesen Investitionsgeldern zum Aufbau afghanischer Unternehmen beizutragen, wurde vertan. Die Arbeitslosigkeit hat sich in den 20 Jahren des militärischen Einsatzes nicht verringert. Einkommenssteuern fließen so nicht in den afghanischen Staatshaushalt, der dringend finanzielle Mittel für das Bildungs- und Gesundheitswesen, für den Straßenbau und Fördermittel für die Wirtschaft benötigt.
Belastend für die Zukunft Afghanistans ist die Kreditwürdigkeit. Das Land benötigt Kapital aus dem Ausland als Treibstoff für die wirtschaftliche Entwicklung oder es bleibt wirtschaftlich weiter auf dem Niveau des 18. Jahrhunderts ohne Industriezweige aus der internen Arbeitsteilung des Landes und mit einer Landwirtschaft, die unter schwierigen natürlichen Umweltbedingungen leidet. Immer zu beachten: Die Wirtschaft ist in jedem Land ein Hauptbereich für ausgeglichene innere Verhältnisse. Ohne neue Kredite für Bewässerungsprogramme, für die Energieerzeugung aus Sonne, Wind und Erdgas, für die Bauwirtschaft, für die Entwicklung eigener Produktivkräfte geht es nicht. Die eigenen Mittel zur Akkumulation reichen nicht aus und haben sich durch den Krieg verringert.
Ein weiter Schaden entsteht dem Land aus der Massenflucht. Wirtschaft, Verwaltung, Dienstleistungseinrichtungen und andere Institutionen verlieren Fachkräfte. Der Verlust ist nur langfristig auszugleichen.
Der geflohene Gouverneur der Zentralbank Afghanistans, Ajmal Ahmady, erklärte, dass 7 Milliarden Dollar des afghanischen Staatsvermögens bei der US-amerikanischen Notenbank zum Teil als Gold im Depot liegen (2). Das Staatsvermögen dient als Kreditsicherheit und es ist nicht liquid für andere Zwecke.
Hilfreich für die afghanischen Politiker aller Ausrichtungen wären Blicke auf die Erfahrungswerte anderer Vielvölkerstaaten wie etwa China. Die chinesische Verfassung bestätigt die Menschenrechte als Ziel und rechtsstaatliche Werte. Eine Nationale Front aus acht Parteien der beratenden, partizipativen Demokratie arbeitet als parlamentarisches Führungsgremium; vom Aufgabenprofil her eine Art Loja Dschirga (3).
Die chinesische Regierung steuert die Integration regionaler Interessenlagen durch Interaktion mit den Volksgruppen. Die Wirtschaft leistet ihre Aufgaben mit vier Formen des produktiven Eigentums (staatliches, genossenschaftliches, privates, gemischtes). Der Grund und Boden ist nationales Eigentum und nutzbar über gesetzlich geregelte Pacht- und Lizenzverhältnisse. Die Zielrichtung gibt ein langfristiger Staatsplan vor, der vom Parlament bestätigt wird. China bietet damit ein Staatsmodell an, mit Demokratieformen, Elementen der Rechtsstaatlichkeit und Bekenntnis zu den Menschenrechten.
Afghanistan hat einen kleinen Grenzverlauf mit China. Im Süden, Norden und Westen liegen große Marktregionen. Das chinesische Projekt “Neue Seidenstraße” hat die Eigenschaft, die wirtschaftliche Entwicklung der Anrainerstaaten zu unterstützen. Das Projekt könnte zum wirtschaftlichen Impuls für Afghanistan werden: Viele Arbeitskräfte und Subunternehmer werden zum Bau benötigt.
Der Dauerwert liegt beim Unterhalt der Trasse, bei Tankstellen, Werkstätten, Möglichkeiten zur Übernachtung und in der Nutzung des Verkehrsweges. China bietet für das Projekt Kredite zu Win-Win-Bedingungen an im Gegensatz zu den westlichen Industriestaaten, die mit Großkrediten eine bestimmte Verhaltensweise fordern. Afghanistan könnte einen Nutzen aus der besseren Verkehrsanbindung für die inneren Verbindungen und den eigenen Außenhandel ziehen.
Als Transitland zwischen Pakistan, Indien, China und Europa braucht das gebeutelte Land wirtschaftlichen Anschluss an die Weltmärkte und solidarische Hilfe beim Aufbau eigener Wertschöpfungsketten. Die offiziell noch nicht aufgekündigte staatliche Vereinbarung zur Entwicklungshilfe Deutschlands an Afghanistan bietet gute Voraussetzungen.
Redaktioneller Hinweis: Der Beitrag von Günter Buhlke erschien unter dem Titel “Wie weiter in Afghanistan?” bei unserem Kooperationspartner Pressenza. Er wurde von Neue Debatte übernommen und aktualisiert. Einzelne Absätze wurden zur besseren Lesbarkeit im Netz hervorgehoben.
Quellen und Anmerkungen
(1) Die Gesamtbevölkerung von Afghanistan wird für das Jahr 2020 auf rund 32,9 Millionen Einwohner geschätzt. Siehe: statista (Internationale Länderdaten) auf de.statista.com/statistik/daten/studie/256435/umfrage/gesamtbevoelkerung-in-afghanistan/ (abgerufen am 1.9.2021).
(2) Die Presse (19.8.2021): Das Dilemma der Taliban: Macht, aber keinen Zugriff auf die Konten. Auf https://www.diepresse.com/6022895/das-dilemma-der-taliban-macht-aber-keinen-zugriff-auf-die-konten (abgerufen am 1.9.2021).
(3) Die Loja Dschirga ist die große (Stammes-)Versammlung, die in Afghanistan zur Klärung nationaler und ethnischer Fragen abgehalten wird.
Foto: SWAG Style (Unsplash.com)
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Günter Buhlke ist Jahrgang 1934 und Dipl. Volkswirtschaftler. Er studierte an der Humboldt Universität und der Hochschule für Ökonomie Berlin. In den 1960er und 70er-Jahren war Buhlke international als Handelsrat in Mexiko und Venezuela tätig und Koordinator für die Wirtschaftsbeziehungen der DDR zu Lateinamerika. Später Vorstand einer Wohnungsgenossenschaft, Referent im Haushaltsausschuss der Volkskammer und des Bundestages und von 1990 bis 1999 Leiter der Berliner Niederlassung des Schweizerischen Instituts für Betriebsökonomie. Günter Buhlke ist verheiratet, lebt in Berlin und engagiert sich ehrenamtlich.