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Einordnung: Gute Arbeit und das Diktat des Mehrwerts

“Kapital ist verstorbene Arbeit, die sich nur vampirmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit und um so mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt.” Das Zitat ist von Karl Marx. Doch wer weiß in der Gegenwart noch, was Arbeit im ökonomischen Sinne ist, warum ein Unternehmer niemals ein Arbeitgeber sein kann und wie es grundsätzlich um die Erwerbsarbeit bestellt ist. Bei “Reiner Wein Spezial”, einer dreiteiligen Serie über die Ökonomie, legt der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Heinz-J. Bontrup die Karten auf den Tisch: Die Lage ist dramatisch. Unter dem Diktat des Mehrwerts zerfällt der Wert menschlicher Arbeit. Auf der ganzen Welt werden Abermillionen ins Elend gestürzt. Eine Zäsur bahnt sich an.

Gast bei “Reiner Wein Spezial” ist der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Heinz-Josef Bontrup. Gesprochen wird über das Wesentliche: die Ökonomie und die Bedeutung der menschlichen Arbeit. Nur sie schafft Werte. Es gibt kein Unternehmen ohne Menschen – sie sind es, die die Maschinen bewegen.

Dass die Wichtigkeit der erwerbsabhängig Beschäftigten in der Fremd- und vor allem Selbstwahrnehmung durch die Verdrehung der Begrifflichkeiten geschwächt wurde, ist ein kleines Detail im großen Puzzle. Ein Beispiel: Unternehmer werden heute als “Arbeitgeber” etikettiert. Das ist blanker Unsinn.


Gute Arbeit und das Diktat des Mehrwerts – Gast: Heinz-J. Bontrup | Reiner Wein Interview (Quelle: Idealism Prevails/YouTube)

Jeder Unternehmer benötigt menschliche Arbeitskraft – ohne sie kann weder eine Dienstleistung erbracht noch irgendetwas produziert werden. Der Unternehmer ist also ein Arbeitskraftnehmer. Ihm steht der Lohnabhängige gegenüber, der am Arbeitsmarkt seine Arbeitskraft anbietet und folglich ein Arbeitskraftgeber ist. Ohne ihn läuft nichts, auch kein Unternehmen und schon gar nicht die Wirtschaft – so einfach ist das. Um ihre Forderungen gegenüber den Unternehmern durchzusetzen, ist der Streik das stärkste Argument der Erwerbsarbeiter.

Wo ist die gute Arbeit?

Das Bild der Arbeit hat sich gewandelt. Die Landwirtschaft spielt in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung nur noch eine Nebenrolle, der mit Öl verschmierte Industriearbeiter ist fast verschwunden, mehr und mehr Menschen sind im Dienstleistungsbereich, dem tertiären Sektor tätig. Dramatisch verändert hat sich aber vor allem die Verteilung von Erwerbsarbeit. Massenhafte Erwerbsarbeitslosigkeit, ausufernder Niedriglohnsektor und eine grassierende Unterbeschäftigung werfen einen bedrohlichen Schatten auf die Gesellschaft. Dass so etwas wie Vollbeschäftigung herrsche, sei eine reine Mystifikation. “Deutschland ist Lichtjahre davon entfernt”, sagt Prof. Heinz-J. Bontrup.


Teil 1: Gute Arbeit und das Diktat des Mehrwerts

Reiner Wein, der politische Podcast aus Wien. Gast: Prof. Heinz-J. Bontrup

www.reiner-wein.org


Die Zahl der Erwerbsarbeitslosen wurde in den letzten Jahrzehnten durch Teilzeitarbeit reduziert. Dies geschah allerdings zu dem Preis, dass viele Menschen von dieser Art Jobs kaum oder gar nicht leben können. Jeder fünfte abhängig Beschäftigte muss mit einem Bruttolohn von 11 Euro pro Stunde über die Runden kommen. Wenn diese Erwerbsarbeiter in Rente gehen, schlittern sie in eine (in Summe) gigantische Altersarmut.

Die erste große Phase von Massenerwerbsarbeitslosigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg traf Deutschland 1974/75 – und davon habe man sich seitdem nicht mehr erholt. Politik und Wirtschaft hätten auf ganzer Linie versagt, meint Bontrup. Warum?

Hohe Erwerbsarbeitslosigkeit sei reine Ressourcenverschwendung, allein schon deshalb, weil durch die Alimentierung hohe Kosten anfallen bei gleichzeitig geringeren Steuereinnahmen. Diese fiskalischen Kosten der Erwerbsarbeitslosigkeit liegen pro Jahr bei 40 bis 45 Milliarden Euro. Sie sind damit größer als die jährliche Staatsverschuldung. Ohne diese Kosten hätte Deutschland seit Mitte der 1970er-Jahre einen fiskalischen Überschuss erwirtschaftet.

Das Diktat des Mehrwerts

1845 beschrieb Friedrich Engels, der selbst Unternehmer in der Textilindustrie war, in seinem Werk “Die Lage der arbeitenden Klasse in England” die Zustände und das Elend im englischen Industriekapitalismus.

Ein paar Jahrzehnte früher, etwa mit der Französischen Revolution, die das Ende der Feudalherrschaft und den Beginn des modernen Kapitalismus markiert, wurde der Lohnarbeiter geboren: Die Knechtschaft unter den Feudalherren wurde durch die Knechtschaft unter den Kapitalisten ersetzt.

Heinz-J. Bontrup empfiehlt, “Das Kapital” von Karl Marx zu lesen und insbesondere das “Kommunistische Manifest” und sich mit dem Inhalt intensiv auseinanderzusetzen. Marx und Engels finden überraschenderweise eingangs lobende Worte für den Kapitalismus, da dieser die Produktivkräfte so stark entwickelte wie keine andere ökonomische Ordnung zuvor. Doch diese basiert auf der Ausbeutung des lohnabhängigen Arbeiters, der allein den Mehrwert schafft.


“Das Kapital ist verstorbene Arbeit, die sich nur vampirmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit und um so mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt.”

— Karl Marx

Karl Marx (1818 - 1883) ist der einflussreichste Theoretiker des Sozialismus und Kommunismus. (Foto: Gemeinfrei)
Karl Marx (1818 – 1883) ist der einflussreichste Theoretiker des Sozialismus und Kommunismus. (Foto: Gemeinfrei)

Einkommen setzt sich gesamtgesellschaftlich betrachtet aus vier Teilen zusammen: dem Lohn für die Arbeitskraft, dem Zins, der Pacht und dem Profit. Die letzten drei Einkommensarten sind der sogenannte Mehrwert; derjenige, der ihn erhält, muss – im Gegensatz zum Lohnarbeiter – nicht selbst dafür arbeiten. Somit ist der Einzige, der Mehrwert schaffen kann, der abhängig Beschäftigte.

Prof. Bontrup merkt allerdings kritisch an, dass es im heutigen Kapitalismus nicht unüblich sei, dass Menschen Einkünfte aus mehreren der vier Einkommensarten erzielen würden. Und auch Vorstände und Geschäftsführer seien eine Art Lohnarbeiter – ganz im Gegensatz zu den Eigentümern eines Unternehmens. Sie arbeiten nicht und schaffen folglich auch keine Werte.

Laut Marx macht es keinen Sinn, den Kapitalismus zu individualisieren, da auch der Unternehmer gefangen ist im System, das insgesamt überwunden werden muss. Daher hält Bontrup das Moralisieren über hohe Vorstandsgehälter für überflüssig, weil ein Vorstand lediglich die Rolle des Kapitalisten übernehme, der sich anderweitig beschäftigen will und nur an der Profitrate interessiert ist. Die wird oft genug vordefiniert. Menschliche Arbeitskraft wird dadurch quasi zu einer Restgröße – Löhne und Gehälter werden entsprechend gedrückt, um die Profitrate zu erreichen. Die liegt beispielsweise in Industrieunternehmen durchschnittliche bei etwa 20 Prozent pro Jahr; der arbeitende Mensch sieht davon keinen Cent. Im Dienstleistungssektor fällt die Profitrate wesentlich niedriger aus, sodass dort billigste menschliche Arbeitskraft benötigt wird – mit katastrophalen Folgen …


Prof. Heinz-Josef Bontrup. (Foto: Privat)
Prof. Heinz-Josef Bontrup. (Foto: Privat)

Über den Gast: Prof. Dr. Heinz-Josef Bontrup (Jahrgang 1954) ist Wirtschaftswissenschaftler und Publizist. Er hat über 50 Bücher veröffentlicht, darunter Titel wie zum Beispiel “Arbeit, Kapital und Staat. Plädoyer für eine demokratische Wirtschaft” oder “Wirtschaftsdemokratie. Alternative zum Shareholder-Kapitalismus”, in denen Aspekte des global herrschenden ökonomischen Systems einer kritischen Analyse unterzogen werden. Prof. Bontrup, der für sein Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet wurde, tritt für eine radikale Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich ein, um wieder mehr soziale Gerechtigkeit herzustellen und eine der Hauptquellen der Finanzspekulationen und Finanzkrisen auszutrocknen. Deren Ursache ist in den stark gesunkenen Lohnquoten der letzten Jahrzehnte zu finden. Prof. Bontrup ist Mitverfasser und Herausgeber der jährlichen Memoranden der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik und deren Sprecher. Außerdem veröffentlicht er regelmäßig Gastbeiträge in der Frankfurter Rundschau. 2019 hielt er an der Westfälischen Hochschule eine vielbeachtete Abschiedsvorlesung.


Literaturempfehlungen

(1) Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England (1845).

(2) Karl Marx und Friedrich Engels: Das Kommunistische Manifest (1848).

(3) Karl Marx: Lohn, Preis und Profit (1865).

(4) Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie; Band1: Der Produktionsprozess des Kapitals (1867).

(5) Friedrich Engels (Hrsg.): Das Kapital; Band 2: Der Zirkulationsprozeß des Kapitals (1885).

(6) Friedrich Engels (Hrsg.): Das Kapital; Band 3: Der Gesamtprozess der kapitalistischen Produktion (1894).

(7) Friedrich Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats (1884). Verfügbar auf https://marx-wirklich-studieren.net/2012/11/27/friedrich-engels-der-ursprung-der-familie-des-privateigentums-und-des-staats/ (abgerufen am 5.9.2021).

(8) Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen; englischer Titel: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776).

(9) Heinz-J. Bontrup: Arbeit, Kapital und Staat: Plädoyer für eine demokratische Wirtschaft (6. erweiterte Auflage, 2021).

(10) Heinz-J. Bontrup: Wirtschaftsdemokratie. Alternative zum Shareholder-Kapitalismus (2006).


Weitere Teile von “Reiner Wein Spezial” mit Prof. Dr. Heinz-Josef Bontrup

Gesetz: Der tendenzielle Fall der Profitrate und die kreative Zerstörung

Technisierung und Automatisierung führen zur Verdrängung menschlicher Arbeitskraft, setzen aber auch die Profitrate unter Druck. Durch die steigende Kapitalintensität gibt es immer mehr Erwerbsarbeitslose und Unterbeschäftigte. Diese Entwicklung kann eine Zeit lang durch “Bullshit Jobs” aufgefangen werden, aber was kommt dann?

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Coinflip: Demokratisierung der Wirtschaft oder Shareholder Kapitalismus

Die Gesellschaften taumeln, während sich der parteipolitische Raum im Gleichklang befindet. Aktuell sitzt im Deutschen Bundestag keine Partei, die das Primat des Kapitalismus herausfordert. Die einzige Chance, sich aus dem Würgegriff des Kapitals zu befreien, ist die radikale Demokratisierung der Wirtschaft.

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Fotos, Audio und Video: Dibakar Roy (Unsplash.com) und Reiner Wein

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Eine Antwort auf „Einordnung: Gute Arbeit und das Diktat des Mehrwerts“

Nicht das Wirtschaften, das das Notwendige für’s Dasein der menschlichen Gesellschaft im Ökosystem Erde erarbeitet ist Kapitalismus, sondern wenn Betriebswirtschaften die Nützlichkeit ihres Unternehmens auf Grundlage nur vorfinanziert möglichen Tätig-seins und anschließender Verpflichtung zur Kredit- und Zinstilgung dem Streben nach Profit unterordnen und im gnadenlosen Konkurrenzkampf verschlissen werden.

Auf die größeren Herausforderungen und Probleme reagieren die Regierungen und die Unternehmerverbände im Innern mit dem Angriff auf den Sozialstaat und nach außen mit verstärkten Bemühungen, die politische und militärische Präsenz der führenden kapitalistisch wirtschaftenden Staaten in der Weltpolitik und deren ökonomische Vormachtstellung zu erhöhen, ohne dass wirksame Beiträge zur Lösung der realen Konflikte geleistet oder auch nur Konzepte hierfür erarbeitet werden.

Die immer wiederholt werdenden Kreisläufe der Marktwirtschaft verlaufen von Produktion (herstellen) über Distribution (verteilen), Zirkulation (verkaufen und kaufen), Konsumtion (verbrauchen) und Regeneration (zurückgewinnen) hin zur Reproduktion (der erweiterten Fortsetzung des Herstellen). Dabei werden Waren und Leistungen hergestellt beziehungsweise erbracht, die für die jeweiligen Nutzer einerseits einen Gebrauchswert haben. Und andererseits haben die Waren und Leistungen auch, je nach Angebot und Nachfrage, einen Tauschwert mittels dessen sie gehandelt und verteilt werden können. Schließlich müssen die verkauften und gekauften Leistungen und Waren erneut erzeugt beziehungsweise erbracht werden, um das Wirtschaften weiterhin fortsetzen zu können.

Das bedeutet, dass die Wirtschaft die Grundlage für das zwischenmenschliche Miteinander ist. Doch in der kapitalistischen Wirtschaftsweise werden Gebrauchswerte hauptsächlich als Mittel zum Zweck hergestellt, um durch deren Verkauf möglichst hohe Profitraten generieren zu können. Der so erwirtschaftete Profit wird aber nur zu einem geringen nicht ausreichenden Teil in die Reproduktion des Produktionsprozesses investiert, weil der andere Teil zu privaten Zwecken abgeschöpft wird.
Darum müssen die Betriebswirtschaften zur ständigen Fortsetzung der Produktion Kredite für Investitionen aufnehmen die mit Zinsen zurück- beziehungsweise als Dividenden ausgezahlt werden müssen. Wenn also von Betriebswirtschaften nicht genügend Gewinn generiert wird und sie insolvent werden, werden die Geldgeber die Besitzer des jeweiligen Geldwerten Kapitals. Oder anders gesagt, wenn sie nicht genügend Profit erwirtschaften sind sie irgendwann zahlungsunfähig, müssen ihr Eigentum verkaufen und sind enteignet.

So gibt es weltweit immer weniger Eigentümer von Produktionsmitteln. Fast alles Eigentum befindet sich in machtpolitisch gestütztem, juristisch garantiertem Besitz mehr oder weniger anonymer Finanzgesellschaften. Auch die Volkswirtschaften sind davon betroffen. Produktion, Dienstleistung, staatlich gestützte Konsumtion und Investition und immer mehr auch die Aufwendungen zur notwendigen privaten Bedürfnisbefriedigung werden durch Kreditinstitute vorfinanziert und machen so alles Zwischenmenschliche abhängig von Ware-Geld-Beziehungen, alles wird feilgeboten und alles ist käuflich. Die Arbeitsleistung wird von immer mehr Menschen nur als notwendige Last und nicht auch als Freude am Schaffen empfunden, da der größte Teil des im Arbeitsprozess Geschaffenem nicht zur Verbesserung der Lebensqualität der Menschen, sondern zum füttern des immer gefräßiger werdenden Geldmolochs vergeudet wird.

Spezifisch für das kapitalistische Wirtschaften ist es also, dass alle gesamtgesellschaftlich erbrachten Arbeitsleistungen in privatem Interesse verwendet werden können. Dadurch werden Waren, besonders die Ware Arbeitskraft, nicht richtig bewertet, die Wirtschaftskreisläufe werden gestört oder gar unterbrochen und es kommt zu Wirtschaftskrisen, sozialen Ungerechtigkeiten und ökologischen Katastrophen.

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