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Meinung

Das Berliner Geschehen – ein dadaistisches Happening

In der Theorie der Avantgarde ist der Schock ein wesentliches Element der Erkenntnisbildung. Ein gesellschaftlicher Schock entstünde, würden sich alle so verhalten wie jene Parlamentarier, die der Theorie nach einen Wählerauftrag haben.


Manchmal führt das viele Spekulieren auch zum Irrsinn. Angesichts der Berichterstattung um die Verhandlungen zur Regierungsbildung dominiert zunehmend diese Befürchtung. Die Auguren des Berliner Geschehens sind dazu verdammt, so meinen sie zumindest, vor den Gebäuden herumzulungern, in denen sich die Protagonisten treffen. Dabei achten sie auf jedes Detail.

Die emotionslose Beschreibung der Lage

Wer kommt aus welcher Richtung? Wer ist wie angezogen? Was sich zumeist auf Anna-Lena Baerbock beschränkt, da die Herren eher uniform daherkommen. Bleiben die Verhandelnden bei der selbst auferlegten Versicherung nichts durchzustechen, um Vertrauen aufzubauen? Wer benutzt welche Formulierung?

Wenn man sich vorstellt, dass die Redakteure Stunden um Stunden dort stehen und sich mit einem solchen Unsinn befassen, muss man ihnen attestieren, dass sie für eine solche Situation noch sehr vernunftbegabt berichten. Unkonditionierte Wesen würden sicherlich irgendwann die Mikrofone in den Gully werfen oder die Kameras in Brand stecken. Denn, zumindest das sollte allen klar sein, wir sind hier nicht beim Lever du roi eines Sonnenkönigs, bei dem dieser beim Ankleiden gnädigst Bittsteller empfing (1), sondern wir reden hier von Parlamentariern, die der Theorie nach einen Wählerauftrag haben.

Die Lage, in der sich dieses Land befindet, kann, ohne sich vom Zelebrieren der Nichtigkeiten ablenken zu lassen, relativ gut und emotionslos beschrieben werden:

  • Da sind die Grundlagen des wirtschaftlichen Erfolgs, moderne Produktionsmethoden und qualifiziertes Personal, im globalen Maßstab ins Hintertreffen geraten.
  • Da sind die Kommunikationsprozeduren zu verschachtelt und die Mittel dazu nicht auf dem technisch besten Stand.
  • Da ist das Gemeinschaftsgefühl durch die Privatisierung essenzieller Bereiche auf ein Minimum reduziert, und da sind die Plattformen für kollektive Identifikation durch individualistische Absurditäten bis auf die Grundmauern geschreddert.
  • Da ist eine Welt, in der sich die Machtverhältnisse grundlegend verändern und ein Sicherheitskonzept, das aus einer völlig anderen Zeit stammt, dem man sich aber verpflichtet fühlt.
  • Und da ist eine Erosion des Vertrauens, die durch das Kapern vieler Institutionen durch Karrieristen ohne Richtung und Haltung entstanden ist.

In diesem Lichte wäre ein Fragenkatalog zu erstellen, der die sich als Protagonisten aufführenden Akteure in Argumentationszwang bringen könnte und darauf hinwiese, wohin die Reise zu gehen hat. Es ist davon auszugehen, dass die Befragung der Akteure aus dem geschilderten Blickwinkel zu einem ziemlichen Debakel führen würde. Sie bestehen nur auf der von ihnen vorgeschlagenen und für sie erstellten Bühne. Substanz ist da eher eine Seltenheit.

Die Klage ist eine durch und durch deutsche Tugend. Die Beschreibung des Zustandes wäre ein weiterer Beitrag zu dieser These. Vielleicht hülfe es, den ganzen Irrsinn der Situation zunächst einmal als dadaistisches Happening (2) zu verstehen und sich mittels einer kollektiv verstandenen Satire darauf einzulassen. Das entlastet für den Moment und bewahrt vor dem Schicksal der ewigen, weinerlichen Klage.

Legen wir den ganzen Zirkus lahm

Also nur zu, machen wir mit im Spiel der Groteske und verhalten uns wie die selbst ernannten Protagonisten, auf der Straße, im Verkehr, im Restaurant und bei der Arbeit. Zählen wir die Tage, wie lange es dauert, bis das gewohnte Leben zum Erliegen kommt und deutlich wird, dass abstrakte Formulierungen auf der Metaebene nichts bewirken und dass die Anmaßung keine Vorstufe der Kompetenz darstellt.

Legen wir den ganzen Zirkus lahm, beschränken wir uns auf eine aktionsvermeidende Rhetorik und faseln von langen, aber intensiven Gesprächen, bei denen wir es uns wahrlich nicht leicht gemacht haben und dass es zum jetzigen Zeitpunkt zu früh sei, um sich zu äußern, weil das den Prozess der Vertrauensbildung gefährden würde.

In der Theorie der Avantgarde ist der Schock ein wesentliches Element der Erkenntnisbildung. Ein gesellschaftlicher Schock entstünde, wenn wir uns alle so verhielten wie die beschriebenen Politiker. Eine wunderbare Stille machte sich breit. Und dann, ja, dann könnte es auch dämmern.


Eine Frau springt in die Luft. Foto Adrianna Van Groningen, Unsplash

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Journalismus hat Zukunft, wenn er radikal neu gedacht wird: Redaktion und Leserschaft verschmelzen zu einem Block – der vierten Gewalt. Alles andere ist Propaganda.


Quellen und Anmerkungen

(1) Ludwig XIV. (1638-1715) war von 1643 bis zu seinem Tod König von Frankreich. Er wurde bekannt als Sonnenkönig. Ludwig betrieb einen Kult um seine Person. Lediglich bei Hofe konnten Posten, Titel und Ämter errungen werden. Folglich scharrte sich die Aristokratie um den König und versuchte, ihm gefällig zu sein. Die Unterwürfigkeit nahm groteske Züge an. Beispielhaft ist das sogenannte “Lever” (frz.: aufstehen), ein öffentliches Morgenritual, bei dem jeweils mehr als 200 Höflinge anwesend waren, um dem König zu huldigen. War der Sonnenkönig nicht in seinem Gemach, wurde dem leeren Zimmer Hochachtung bezeugt. Weitere Infos zum Beispiel auf https://www.geschichtslehrer.in/contentLD/HI/Ba73mHygiene.pdf (abgerufen am 6.10.2021).

(2) Die künstlerische und literarische Bewegung des Dadaismus (auch Dada) wurde 1916 unter anderem von Hugo Ball, Marcel Janco und Hans Arp in Zürich begründet. Sie zeichnete sich durch die Ablehnung konventioneller Kunst und Kunstformen sowie bürgerlicher Ideale aus. Damit war der Dadaismus eine Art Revolte von Künstlern, die die Gesellschaft ihrer Zeit und deren Wertesystem ablehnten, gegen die Kunst selbst. Traditionelle Kunstformen wurden von ihnen satirisch und übertrieben verwendet. Die Impulse des Dadaismus wirkten auf die Kunst der Moderne bis hin zur zeitgenössischen Kunst.


Foto: Dan-Cristian Pădureț (Unsplash.com)

Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

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