Es ist immer hilfreich, Geschehnisse aus dem eigenen Lebensbereich in ferne Länder und Kulturkreise zu exportieren und sie sich dann aus gesicherter Distanz anzusehen. Bertolt Brecht hat das mit seinen Theaterstücken oft gemacht und sich dabei etwas gedacht (1). Es ging ihm darum, wie er in ‘Kleines Organon’ schreibt, etwas Vertrautes, Alltägliches seiner Emotionalität und Begriffsstutzigkeit zu entreißen. Und er hoffte, dass das, was man aus der Ferne betrachtet, einem ohne die Gravitationswirkung der Routine viel erklären wird. Das ist nicht nur klug, sondern es trifft auch zu.
Die Gesellschaft, in der wir uns bewegen, hat vieles von dem vergessen, was in ihr eigentlich an kollektivem Bewusstsein vorhanden sein müsste. So auch die beschriebene Wirkung des Exports von Alltäglichem in ferne Welten. Dann würde so manches sehr schnell deutlich. Aber wer will das noch?
Der “Heil”-Tweet und der inquisitorische Kult
Stellen wir uns vor, was passierte, wenn wir einen Bericht, sagen wir aus China erhielten, in dem geschildert würde, wie eine junge Frau von 20 Jahren gemobbt und mit dem Tode bedroht würde, die als 13-jähriges Mädchen getwittert hätte, Mao Zedong sei ein Landesverräter gewesen. Die Empörungswellen schlügen selbstverständlich und zu Recht hoch. Man wäre schnell dabei, das Unmenschliche, das Undemokratische und das Terroristische des dortigen Regimes anzuprangern.
Manche Politiker forderten sofortige Sanktionen, andere sondierten die Möglichkeit einer Resolution bei den Vereinten Nationen, die die Verhältnisse aufs Schärfste verurteilte, in den sozialen Medien würden Posts und Konterfeis erscheinen, auf denen man sich mit der jungen Frau solidarisierte und im allgemeinen Twitter-Chor wäre das Entsetzen groß.
Nun handelt es sich bei dem geschilderten Fall um einen Export aus hiesigen Landen. Der Fall ist bekannt und er ist symptomatisch. Es handelt sich um die Sprecherin der Grünen-Jugend, die Opfer eines in den eigenen Reihen gepflegten inquisitorischen Kults wurde (2). Sie hatte als 13-Jährige etwas mit dem Hitler-Gruß getwittert und wird nun aufgrund dessen gemobbt und mit dem Tode bedroht. Das einzige, worüber man dabei froh sein kann, ist die Tatsache, dass es sich um ein prominentes Beispiel aus gerade diesem Milieu handelt, in dem man sich daran ergötzte, mit dem inquisitorischen und gleichsam faschistischen Feuer zu spielen.
Die Logik hinter dem Terror
Wer sich, so die logische Schlussfolgerung, des inquisitorischen Hexenhammers dieser Tage bedient und es zulässt, dass der obszöne Arm der Exekution bis in die Tage der Kindheit zurückreicht, hat sich zu einem waschechten Terroristen gemausert.
Es sagt nicht nur etwas über den Zustand der Öffentlichkeit aus, die im Großen und Ganzen schweigt oder darüber berichtet wie über das Regenaufkommen an der Küste, es zeigt auch den Substanzverlust politischer Haltung und den Tiefschlaf der Ermittlungsbehörden, der sich darin widerspiegelt.
All jenen, die meinen, sie müssten immer noch auf die Transportwaggons der Political Correctness und Wokeness (3) aufspringen, weil sie meinen, sie könnten politischen Profit daraus schlagen, sollten in Erwägung ziehen, wohin diese Güterzüge fahren.
Kein Event, keine Verlautbarung, in denen nicht dem unseligen, anti-demokratischen und gebrainwashten Zeitgeist Tribut gezollt wird.
Politik wie Journalismus offenbaren sich in einem Zustand, der als frei von Haltung bezeichnet werden muss. Wer sich aus Opportunismus dieser Logik des Terrors verschreibt, wird als stinkender Kadaver in den Arsenalen der Demokratievernichtung enden. Zeitgeist, dein Name ist Terror.

Schluss mit dem
Theater …
Karten auf den Tisch!
Journalismus ist entweder eine beliebige Ware und damit nutzlos oder wird von den Mediennutzern ökonomisch getragen und in ihren Händen zur vierten Gewalt.
Quellen und Anmerkungen
(1) Bertolt Brecht (1898 bis 1956) war ein Dramatiker, Librettist und Lyriker. Er begründete das epische Theater (bzw. dialektische Theater). Zu seinen bekanntesten Stücken zählen “Die Dreigroschenoper” (Uraufführung 1928), das epische Theaterstück “Die heilige Johanna der Schlachthöfe” (1931) und das im schwedischen Exil verfasste Drama “Mutter Courage und ihre Kinder” (1941).
1948 veröffentlichte er seine theoretische Schrift “Kleines Organon für das Theater”. Sinn des Theaters sei es, die Menschen zu unterhalten. Es wäre dennoch legitim, moralische oder didaktische Ansprüche zu stellen, sofern der Unterhaltungsaspekt nicht leidet. Im wissenschaftlichen Zeitalter sei ein Theater nötig, dass den Blick vor allem jener Zuschauer auf gesellschaftliche Probleme und Vorstellungen lenkt, die zur beherrschten Klasse gehören und die neuen Sichtweisen gegenüber aufgeschlossen sind.
(2) Tagesschau (11.10.2021): Wegen früherer Äußerungen: Grüne-Jugend-Sprecherin erhält Drohungen. Auf https://www.tagesschau.de/inland/gruene-jugend-sprecherin-drohungen-101.html (abgerufen am 13.10.2021).
(3) Wokeness ist ein seit den späten 2010er-Jahren verwendeter Begriff, der eine erhöhte Sensibilisierung für soziale Ungerechtigkeiten und Formen des Rassismus beschreibt. Aktivistisches oder militantes Eintreten für den Schutz von Minderheiten kann damit einhergehen. Als Begriff wurde ‘woke’ von Afroamerikanern ab Mitte des 20. Jahrhunderts verwendet. Sie beschrieben damit ein Bewusstsein für soziale Unterdrückung.
Foto: Kalis Munggaran (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
2 Antworten auf „Terror als Zeitgeist!“
Ich dachte ja immer, dieses “woke” wäre eine zeitgeistlich verstümmelte Version von “en vogue”.
das ist der ganz normale wahnsinn unserer heutigen auch DE normalität – wenn china oder russland rülpsen, ists fast ein kriegsgrund, aber wenn wir hingegen “kotzen”, ist das als normalität definiert und wird als normal verbreitet – wir leben halt (noch) in einer “wohlfühlblase”, wie auch die jetzige DE-wahl deutlich beweist.
aber das ist allgemein menschlicher standard, menschen schreiten nicht aufrecht und antizipierend und vorausgestaltend in zukünfte, sondern werden immer erst von eingetretenden katastrophen in zukünfte an den haaren geschleift und hinein getreten, solange sie politische und soziale steuerungen haben, die nur jeweils re-agieren, statt zu agieren, deutlich zu erkennen zb an der seit jahren langsamen rechts-drift westlicher gesellschaften = aus der geschichte nichts gelernt, und gegen sich anbahnende katastrophen (zb klimadrift, migranten, umweltzerstörung usw) fällt uns nix ein, als rückfall auf vermeintlich sichere historische klischees, wie “rechts ist besser als links”, abschotten statt sich für neues öffnen, praktisch “kopf in den sand”, involution statt evolution, – das ist zwar traurig, aber so IST mensch, oder anders gesagt, die evolution allen lebens ist/verläuft immer erz-konservativ, und auch mensch, trotz verstand und angeblich überragenden intellekt, hat es bis heute nicht geschafft, da “antizipierend” herauszukommen (für mich ein anzeichen, dass auch “homo sapiens” nur ein ganz normales tier unter allen anderen ist).