Wenn man das eigene Schicksal in die Hände anderer legt, bleibt nur das Vertrauen in das Handeln derer, denen man sich anvertraut hat. Im Falle der Aushandlung von Einkommen und der Gestaltung von Arbeitsverhältnissen führt es zu einer schleichenden Entmündigung derer, um die es geht.
Vergiftung durch Passivität
Diese Erfahrung haben die Beschäftigten in der Bundesrepublik in den letzten Jahren gemacht. Sie haben sich auf die Aussagen derer verlassen, die unter früheren Umständen Arbeitskämpfe organisiert haben, um die Interessen zu vertreten. Sie verwiesen ihrerseits auf die Regierung, die nicht tatenlos war, aber den Generalangriff auf organisierte Interessenvertretung nicht verhindern konnte.
Die organisatorisch verordnete Passivität hat zudem dazu geführt, dass das schleichende Gift der Passivität in jede Pore eingedrungen ist.
Das ist nicht überall so, aber in einem Land, das noch vor wenigen Jahrzehnten als eines der gewerkschaftlich am besten organisierten in der westlichen Welt galt, ist das eine bittere Bilanz. Von einem Lernprozess ist in den Zentralen der hiesigen Gewerkschaften nichts zu registrieren. Außer abstrakten Plädoyers für soziale Gerechtigkeit und Appellen an eine Regierungspartei, doch gefälligst für einen Mindestlohn zu sorgen, ist nichts zu vernehmen. Der Gegenpol zu einer nach Belieben waltenden wirtschaftsliberalen Unternehmensführung müsste anders aussehen.
Arbeitskämpfe in Frankreich und den USA
Die Berichte aus Frankreich, die nicht aus den hiesigen Medien zu entnehmen sind, zeigen, dass im westlichen Nachbarland eine andere Epoche bereits angebrochen ist. Dort sind Proteste und Streiks gegen die Regierung und auf prekäre Arbeitsverhältnisse setzende Unternehmen seit Jahren in vollem Gange. Sie haben eine Dimension angenommen, die darüber entscheiden wird, wie die nächsten Wahlen ausgehen. Dort beginnen sich die Parteien, die als klassische Vertretungen von Arbeitnehmern galten, neu zu orientieren und sich auf ihre Kernaufgabe zu besinnen.

In den Vereinigten Staaten ist momentan die größte Streikbewegung seit Jahrzehnten in vollem Gange. Sehr schnell haben die Beschäftigten dort gemerkt, dass ein bloßer Regierungswechsel im Hinblick auf ihre Existenzbedingungen nichts bewirkt. Das Interessante bei diesen Massenstreiks, die sowohl in klassischen Industriebetrieben wie bei John Deere (1), in der Lebensmittelproduktion von Kellogg’s (2) und bei Prekariatsweltmeistern wie Amazon (3) gleichermaßen geführt werden, ist die Zielrichtung. Dort geht es einerseits um Bezahlung, andererseits auch gegen die digitale Durchleuchtung und Überwachung aller Arbeitsprozesse, um Arbeitszeiten, um Pausen, um Gesundheitsfürsorge und Vertragssicherheiten. Es sind Kämpfe gegen die schöne neue Welt der finanzkapitalistisch gesteuerten und digital organisierten Arbeit.
Es lässt sich ermessen, warum in den Journalen, die sich mit dem Weltgeschehen befassen, mit großer Aufmerksamkeit über Vorkommnisse in den Ländern berichtet wird, die zu den Feindbildern der nahen Zukunft zu zählen sind. Da sind die Verhältnisse in China und Russland weitaus interessanter als die, unter denen der Großteil der eigenen Bevölkerung zu leiden hat. Wahrscheinlich ist es untersagt, sich einmal intensiver mit den französischen und amerikanischen Verhältnissen zu befassen.
Einfach mal anrufen
Dass sich die Gewerkschaften, zu deren Portfolio es einmal gehörte, sich international zu vernetzen und nach gemeinsamen Ansatzpunkten für eine gegenseitige Unterstützung zu suchen, im Stadium der umfassenden Globalisierung zu einem isolationistischen, in passiver Träumerei verweilenden Wahlunterstützungsverein gewandelt haben, rächt sich in desaströser Weise. Vielleicht findet sich bei dem einen oder anderen Funktionär noch die Telefonnummer von Kolleginnen und Kollegen der CGT (Confédération Général du Travail) oder der AFL-CIO (American Federation of Labor and Congress of Industrial Organizations). Einfach mal anrufen und sich melden. Vielleicht geht da was?
Quellen und Anmerkungen
(1) John Deere bezeichnet die Hauptmarke des US-amerikanischen Industrieunternehmens Deere & Company. Es wurde 1837 gegründet und geht zurück auf den gleichnamigen Unternehmensgründer John Deere (1804-1886). Das Unternehmen (Umsatz 2019: über 39 Milliarden US-Dollar bei rund 73.000 Erwerbsarbeitern) ist einer der führenden Hersteller von Landtechnik, außerdem werden Maschinen für Forstwirtschaft und Bau vertrieben sowie Geräte zur Rasen- und Grundstückspflege.
(2) Kellogg’s (eigentlich Kellogg Company) ist eines der weltweit größten Unternehmen für Getreideprodukte. Das Unternehmen, 1906 von Will Keith Kellogg in Battle Creek (Michigan) gegründet, betreibt Produktionsstätten in zwanzig Ländern. Im Jahr 2015 wurde angeblich ein Umsatz von rund 13,5 Milliarden US-Dollar erzielt bei lediglich 33.600 Mitarbeitern.
(3) Amazon (genauer: Amazon.com, Inc.) ist ein börsennotierter US-amerikanischer Onlineversandhändler. Das Unternehmen (etwa 1,3 Millionen Mitarbeiter), 1994 von Jeff Bezos im US-Bundesstaat Washington gegründet, erzielte im Geschäftsjahr 2020 einen Umsatz von rund 386 Milliarden US-Dollar. Im Januar 2018 wurde bekannt, dass 10 % der Amazon-Arbeiter in Ohio die Voraussetzungen für das staatliche Lebensmittelmarken-Programm erfüllen, das Menschen unterhalb der Armutsgrenze hilft. Siehe Pressetext (9.1.2018): Amazon USA: Arbeiter haben Lebensmittelmarken. Auf https://www.pressetext.com/news/20180109001 (abgerufen am 18.10.2021).

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Foto: Bruno Aguirre (Unsplash.com) und Romerito Pontes (flickr.com; CC BY 2.0)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
Eine Antwort auf „Proteste in Frankreich, Streiks in den USA, Passivität in der BRD“
Einen Tag vor meinem Ausbildungsbeginn wurde ich Gewerksachftsmitglied und bin es bis heute als Pensionär. Ich gebe zu, nie wirklich aktiv gewerkschaftlich gearbeitet zu haben. Mir wurde schnell klar, dass es sich bei meiner Gewerkschaft lediglich nur um ein notwendiges Gegengewicht der Arbeitnehmerschaft handelte. Aktive Gewerkschaftler betrachteten viele meiner Kollegen und ich im laufe der letzen Jahrzehnte als Kaffeetrinker und Kongressschwätzer. Wir jedoch gaben unser Schutzgeld stets pünktlich ab. Mich macht das nachdenklich. Aber OHNE?