Das geflügelte Wort Voltaires, das besagt, nicht mit dem Gegenüber einer Meinung zu sein, aber alles dafür tun zu wollen, dass es das Recht behielte, diese kundzutun, wird nicht umsonst in diesen Tagen immer wieder zitiert (1). Es hat, um gleich zur Sache zu kommen, eine bittere Aktualität.
Denn das, was die mittlerweile als inquisitorischer Hexenhammer etablierte Empörungskultur leistet, hat mit den individuellen Freiheiten, die die bürgerliche Demokratie zu gewährleisten vorgibt, nichts zu tun. Obwohl auf der einen Seite von einer Individualisierung der Gesellschaft gesprochen wird, ist gerade das Recht, sich als Individuum zu entscheiden, als eine blasphemische Abart in Verruf gekommen.
Die Opfer haben Namen
Insofern ist das, was als Individualisierung so gerne bezeichnet wird, auf der einen Seite die Befreiung von einer Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft zu verstehen und auf der anreden Seite die Segnung von Raffgier und Egomanie. Das Recht, sich zu äußern, auch wenn es dem vermeintlichen gesellschaftlichen Konsens widerspricht, ist damit nicht gemeint. Wer sich gegen das, was als die Meinung der Regierung und ihrer Unterorganisationen stellt, wird zum Paria.
Die Opfer haben Namen, sie heißen Jan Joseph Liefers, Nena oder Joshua Kimmich (2,3,4). Ihre Vergehen, folgt man der geifernden Konsensmeute, sind mal das konkrete Vorgehen der Regierung infrage zu stellen, mal an die Menschen zu appellieren, zu überlegen, was sie mit sich machen lassen und mal sich dafür zu entscheiden, eine abweichende Meinung in der Impffrage zu haben.
Was jeweils folgte, war die ‘Heilige Inquisition’ neudeutscher Färbung. Betrachtet man die “Vergehen”, derer sich die Erwähnten schuldig gemacht hatten, so kommt man sehr schnell zu dem Schluss, dass sich da nicht mehr abgespielt hat als die Meinungsdiversität in einer demokratischen Gesellschaft.
Da Letzteres – die Inquisition – aber zum Normalfall geworden ist, muss geschlussfolgert werden, hapert es gewaltig in Sachen Demokratie. Machen wir uns nichts vor: Die Zeiten der Freiheit liegen hinter uns.
Und die Konditionierung der Bevölkerung auf mentale Hinrichtungsrituale bei Petitessen und dem Verschweigen und Bagatellisieren von gravierenden Unrechtshandlungen oder offensichtlichem Regierungsversagen haben eine Gesellschaft geschaffen, die nicht mehr in der Lage ist, ihren eigenen Idealen zu folgen und die sich zudem noch anmaßt, anderen in der Welt vorzuschreiben, wie sie zu leben haben.
Gift aus Deutschland
Die bittere Wahrheit kristallisiert sich immer mehr heraus, dass die Befürchtungen, die sich bei vielen Nationen bei der deutschen Wiedervereinigung regten, ihre Berechtigung hatten. Das Kuriose dabei ist die Tatsache, dass die damals befürchtete Entwicklung, Deutschland würde sich zu einer Großmacht klassischer Erscheinung entwickeln, die mit mehr Geld, mehr Militär und mehr Machtgebaren in der Welt um Anteile kämpft, nicht exklusiv eingetreten ist.
Das Imperiale, mit dem aus Deutschland nun die Welt beglückt wird, trägt nicht nur Uniformen, sondern es zitiert die Wissenschaft, hat das Gesicht junger Frauen und appelliert, die Menschenrechte einzuhalten und die Lebensgrundlagen zu erhalten. Nicht schlecht könnte man denken, wenn es nicht getränkt wäre von Autoritarismus, von latentem oder offenen Militarismus, von der Akzeptanz von Kriegen im Namen von vermeintlichen Werten, die im eigenen Land nicht mehr gewährleistet sind, von Dogmatismus, von sozialem Egoismus und einer Verabscheuung all dessen, was erforderlich ist, um eine Gesellschaft zusammenzuhalten: Gemeinschaft.
Es ist ein süßes Gift, mit dem der neue deutsche Imperialismus an der Ecke steht und dealt. Aber es bleibt Gift, und die Dosen, mit denen gehandelt wird, sind tödlich.
Quellen und Anmerkungen
(1) François-Marie Arouet, genannt Voltaire (1694 -1778) war Philosoph und Schriftsteller. Er ist einer der meistgelesenen und einflussreichsten Autoren der Aufklärung. Mit seiner Kritik an den Missständen des Absolutismus und der Feudalherrschaft sowie am weltanschaulichen Monopol der katholischen Kirche war er ein Wegbereiter der Revolution in Frankreich 1789.
Es zirkulieren zahlreiche Zitate über Meinungsfreiheit und die Verteidigung der Meinungsfreiheit im Netz, die Voltaire zugeschrieben werden, aber seine eigentliche Aussage nicht oder nur bruchstückhaft wiedergeben. Zur Meinungsfreiheit äußerte sich Voltaire 1765 in seiner Publikation “Questions sur les miracles”, auch bekannt als “Lettres sur les Miracles” (verfügbar auf https://archive.org/details/collectiondesle00voltgoog/page/n29/mode/2up; abgerufen am 24.10.2021):
“Le droit de dire et d’imprimer ce que nous pensons est le droit de tout homme libre, dont on ne saurait le priver sans exercer la tyrannie la plus odieuse. Ce privilège nous est … essentiel … ; et il serait déplaisant que ceux en qui réside la souveraineté ne pussent pas dire leur avis par écrit.” (Quelle: Questions sur les miracles)
Übersetzung: “Das Recht, zu sagen und zu drucken, was wir denken, ist das Recht eines jeden freien Menschen, das nicht entzogen werden kann, ohne die abscheulichste Tyrannei auszuüben. Dieses Privileg ist … wesentlich für uns … und es wäre unangenehm, wenn diejenigen, denen die Souveränität zusteht, ihre Meinung nicht schriftlich äußern könnten.”
Weitere Informationen zum Hintergrund auf https://anmerkungendonecvenias.blogspot.com/2011/01/was-hat-voltaire-wirklich-zur.html (abgerufen am 24.10.2021).
(2) Jan Josef Liefers (Jahrgang 1964) ist Schauspieler, Musiker, Regisseur und Produzent. Er wurde vielfach ausgezeichent (unter anderem Adolf-Grimme-Preis 2004, Verdienstkreuz am Bande 2011, Grimme-Preis 2013, Ehrenpreis der Hans-Rosenthal-Stiftung 2018).
(3) Gabriele Susanne Kerner (Jahrgang 1960) ist eine Popsängerin die unter dem Künstlernamen Nena bekannt ist. Sie wurde 1983 durch den Hit “99 Luftballons” ihrer damaligen Band Nena bekannt. Sie zählt sie zu den erfolgreichsten Künstlern der deutschen Musikgeschichte.
(4) Joshua Walter Kimmich (Jahrgang 1995) ist ein Profifußballspieler des FC Bayern München. Seit 2016 spielt er für die A-Nationalmannschaft des DFB.

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Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.