Manchmal sind es Kleinigkeiten, an denen die großen Malaisen unserer Tage am besten illustriert werden können. Da standen die großen Strategen der internationalen Politik vor den Mikrofonen und gaben ihre Statements ab. Jetzt sei Schluss mit den Provokationen, der Rubikon sei überschritten, innerhalb des Bündnisses ginge man so nicht miteinander um. Und viele Menschen waren ähnlich empört, hatte sich da doch ein Autokrat mit honorablen Staaten angelegt, um im eigenen Land weiter wüten zu können. Was war passiert?
Der Fall Osman Kavala und Artikel 41
Insgesamt zehn Botschafter, darunter die der Bundesrepublik und der USA, hatten sich in einem Schreiben gegen die aus ihrer Sicht unrechtmäßige und willkürliche Behandlung des türkischen Kulturmäzens Osman Kavala gewandt, der nicht nur seit langem inhaftiert ist, sondern dem noch lange Haftstrafen drohen, weil absurd klingende Anklagen seitens der Staatsanwaltschaft hinzugekommen sind und jetzt verhandelt werden sollen (1).
Die Botschafter hatten dagegen protestiert und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte darauf mit der Drohung reagiert, diese als unerwünschte Personen ausweisen zu wollen (2).
Solange die USA bei der Stange blieben, wurde hierzulande auch mit dem Säbel gerasselt. Dann aber vollzog sich ein Wandel: Die USA übersandten eine Note nach Ankara, in der sie versicherten, sie würden sich künftig an den Artikel 41 des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen – also über die Verfahrensweise der Diplomatie – halten und sich nicht mehr in die inneren Angelegenheiten eines anderen Landes einzumischen (3, 4). Daraufhin nahm Präsident Erdogan die Drohung der Ausweisung zurück und gab sich mit dieser Erklärung, der sich die anderen Länder anschlossen, zufrieden.
Die diplomatische Krise als kuriose Verzerrung
In unseren Leitmedien wurde die Wende des als Diplomatenkrise bezeichneten Konflikts mit der Türkei dann prompt als ein Zurückweichen Erdogans apostrophiert, was die Kausalität auf den Kopf stellt und wieder einmal einen Hinweis darauf gab, wie es um den Journalismus hierzulande steht.
Denn tatsächlich hatten die zehn Diplomaten, auch wenn sie in ihrer Kritik in der Sache im Recht waren, die Statuten des diplomatischen Verkehrs verletzt, weil diese genau das vorschreiben, was man gerne für sich reklamiert: die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten.
Das Kuriose an dem Vorfall ist, dass eine schon seit langem gut eingeübte Praxis, sich in die Angelegenheiten anderer Länder auch auf diplomatischer Ebene einzumischen, nun – aus Perspektive der NATO – im eigenen Lager exerziert wurde und die Aktivisten die Rechnung ohne den Wirt gemacht hatten. Und es ist ein Spiegel einer völlig verzerrten Realität, dass in diesem Fall die Aktivisten die Diplomaten westlicher Länder waren und es sich bei dem Wirt um den türkischen Autokraten handelte.
Lessons Learned
Der Vorfall wäre eine gute Gelegenheit, um sich mit etwas zu befassen, was in der Welt des internationalen Verkehrs gerne als Lessons Learned bezeichnet wird (5). Man könnte sich die Frage stellen, wie man es grundsätzlich mit den Regeln der Diplomatie halten will.
Soll man sie weiter verletzen und darauf hoffen, dass das Gegenüber nicht so scharfe Waffen wie die geostrategische Bedeutung oder die Beherbergung von Millionen Kriegsflüchtlingen im Koffer hat? Oder soll man es einmal erörtern, welchen Gehalt das NATO-Bündnis in der jetzigen Form in Bezug auf das hohe Gut der Demokratie hat? Oder nimmt man das Ereignis zum Anlass, sich mit der eigenen Praxis der doppelten Standards zu befassen?
Sorgen um irgendetwas Gelerntes wird man sich nicht machen müssen, solange die Akteure gar nicht mehr merken, wenn sie Niederlagen einfahren und dabei in einen Pressespiegel schauen, der das Desaster in einen Sieg ummünzt.
Quellen und Anmerkungen
(1) Osman Kavala (Jahrgang 1957) ist ein türkischer Unternehmer (Kavala Companies), Mäzen und Aktivist. Er sitzt seit 2017 in der Türkei in Untersuchungshaft wegen seiner vermeintlichen Rolle bei regierungskritischen Protesten. Kurz nach seinem Freispruch 2020 wurde Kavala erneut verhaftet. Im Oktober 2020 forderte die türkische Staatsanwaltschaft eine “verschärfte” lebenslange Haftstrafe. In einer Anklageschrift werden Osman Kavala eine Beteiligung am Putschversuch von 2016, der “versuchte Sturz der Regierung” und “politische Spionage” vorgeworfen. Kavala ist Unterstützer von Amnesty International und Gründungs- sowie Direktoriumsmitglied der Open-Society-Stiftung, eine Gruppe von Stiftungen des amerikanischen Milliardärs George Soros, den Kavala unterstützt.
(2) Kleine Zeitung (23.10.2021): Diplomatische Krise – Erdoğan erklärt zehn westliche Botschafter zu “unerwünschten Personen”. Auf https://www.kleinezeitung.at/politik/aussenpolitik/6051376/Diplomatische-Krise_Erdogan-erklaert-zehn-westliche-Botschafter-zu (abgerufen am 27.10.2021).
(3) JuraForum (18.5.2021): Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen sowie Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen. Auf https://www.juraforum.de/lexikon/wiener-uebereinkommen-ueber-konsularische-beziehungen und auf https://www.juraforum.de/lexikon/wiener-uebereinkommen-ueber-diplomatische-beziehungen (beide abgerufen am 27.10.2021).
(4) Justizportal Nordrhein-Westfalen: Wiener Übereinkommen vom 18. April 1961 über diplomatische Beziehungen (veröffentlicht im Bundesgesetzblatt Jahrgang 1964 Teil II Nr. 38, Seite 959 ff., ausgegeben zu Bonn am 13. August 1964); Artikel 41, Abs. 1: “Alle Personen, die Vorrechte und Immunitäten genießen, sind unbeschadet derselben verpflichtet, die Gesetze und andere Rechtsvorschriften des Empfangsstaats zu beachten. Sie sind ferner verpflichtet, sich nicht in dessen innere Angelegenheiten einzumischen”. Auf https://www.justiz.nrw.de/Bibliothek/ir_online_db/ir_htm/frame_wued_18-04-1961.htm (abgerufen am 27.10.2021).
(5) Lessons Learned (deutsch: Gewonnene Erkenntnisse) ist ein Fachbegriff des Projektmanagements beziehungsweise des Wissensmanagements. Dabei handelt es sich um die (schriftliche) Aufzeichnung und das systematische Sammeln, Bewerten und Verdichten von Erfahrungen, Entwicklungen, Hinweisen, Fehlern und Risiken aus Projekten, deren Beachtung und Vermeidung sich als nützlich für zukünftige Projekte erweisen kann.

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Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.