Ein Phänomen durchzieht unser Dasein, das tatsächlich als Massenerscheinung neu ist und es zunehmend schwierig macht, sich über bestimmte, fachlich komplizierte Zusammenhänge zu verständigen. Es handelt sich um die vermeintliche Fähigkeit eines jeden, sich zu allen Sachverhalten kompetent äußern zu können.
Unter anderem entspringt dieser Trugschluss dem Irrglauben, die Offenlegung aller Daten und Fakten führe zu einer durchgängigen Transparenz und zu einer damit einhergehenden Kompetenz des fachkundigen Urteils.
Dass Menschen in den vielen öffentlichen Diskursen, die viral stattfinden, sich bei einer gewissen Frage mit der Begründung zurücknähmen, sie hätten in dieser Frage nicht die nötige Kompetenz, ist nahezu unvorstellbar geworden. Und (um eine vorzeitige Zuweisung dieses Phänomens zu einem bestimmten sozialen der politischen Lager auszuschließen) die fakten-, theorie- und kritikarme Kommentierung eines jeden Ereignisses hat zu einer nahezu kollektiven Nivellierung jeglichen Niveaus geführt.
Quacksalberei als Ideologie
Die in unermessliche Höhen gehobene Zivilgesellschaft, die ihrerseits ebenfalls alle Höhen und Tiefen des gesellschaftlichen Handelns historisch mitzuverantworten hat, wurde kurzerhand der negativen Bilanz entledigt und sie wird nun verehrt als der Keim von Demokratie und wissenschaftlicher Qualität.
Dass das nicht der Fall ist, zeigt sich an vielen Punkten, es sei denn, das Urteil von Aktivisten, die mit einer Rentner- oder Hausfrauenidentität ausgestattet sind, könnten es besser beurteilen, mit welchen Bohrköpfen Tunnel für eine Eisenbahnlinie gefräst werden sollen, in welchen Behältern Flüssiggas deponiert werden soll und wie die Öko-Bilanz einer Batterie zu berechnen ist.
Ja, manche Menschen aus der Zivilgesellschaft haben sich in einem langen Leben in politischen Sphären eine bestimmte Expertise erarbeitet, aber als Massenphänomen ist diese Qualität nicht zu beobachten.
Wie könnte die richtige Reaktion auf etwas aussehen, dass als tiefes Misstrauen gegenüber den herrschenden Disziplinen und Institutionen bezeichnet werden kann? Ist es tatsächlich die Negation jeglicher Expertise und die Zuwendung zu einem, nennen wir es beim Namen, Faktenpopulismus, der in seiner Einfalt seinesgleichen sucht?
Letzteres ist zurzeit mit einer steigenden Tendenz zu beobachten. Das Problem wird dadurch nicht gelöst werden. Wenn sich Quacksalberei zu einer flächendeckenden Ideologie mausert, dann ist die Prognose realistisch, dass vieles zerstört werden wird, das es wert wäre, erhalten zu werden.
Gegen das Prinzip der Anmaßung
Die Kritik an den Aussagen vieler Disziplinen und an den eingenommenen Positionen vieler Institutionen ist weitgehend berechtigt. Daher wäre zu raten, sich mit den Ursachen für bestimmte Fehlentwicklungen direkt zu beschäftigen. Wissenschaften, die von bestimmten Lobbys dominiert werden, müssen von dieser Dominanz befreit werden und Institutionen, die von einseitigen Interessengruppen unterwandert wurden, müssen ihrem ursprünglichen Zweck wieder untergeordnet werden. Beides ist politisches Handeln und kann von allen begleitet und verfolgt werden, denen die Systematik politischen Handelns bekannt ist.
Was die Fachlichkeit anbelangt, so wären viele gut beraten, sich an das zu halten, was sie gelernt haben und wirklich verstehen. Es soll noch Persönlichkeiten geben, die den Standpunkt vertreten, sich zu bestimmten Sachverhalten nicht äußern zu wollen, weil ihnen dazu der nötige Sachverstand fehlt, und auf diejenigen zu verweisen, bei denen sie die entsprechende Kompetenz vermuten und denen sie vertrauen.
Es wäre eine gute Übung, mit der Suche nach solchen Menschen zu beginnen und sich selbst auf das zurückzuziehen, was man versteht und beherrscht. Dabei ist zu raten, den kritischen Blick auf alles zu wahren. Wenn das Prinzip der Anmaßung sich jedoch als flächendeckende Tugend durchsetzt, ist der politische Schaden größer als der Nutzen.

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Foto: Camilo Jimenez (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
3 Antworten auf „Faktenpopulismus, Anmaßung, Quacksalberei“
Auf der einen Seite haben Sie Recht, Herr Mersmann, in den soziale Medien ist vieles zu lesen, was nicht ausreichend durchdacht scheint. Auf der anderen Seite, der politischen – dieser Begriff fällt erstmalig im drittletzten Abschnitt – ist keine Fachkompetenz gefragt, sondern ganzheitliches Erfassen. Ist es hier nicht wichtiger zu einer Diskussion zu kommen, als Fakten auf den Tisch legen zu können?
Und die Vertreter aus “Wissenschaften, die von bestimmten Lobbys dominiert werden”, werden selbst zu Quacksalbern, deren Thesen wiederum von anderen selbst ernannten Experten oder Quacksalbern übernommen werden. Gestern schaute ich mir ein Interview von Milena Preradovic mit Norbert Häring an. Der wurde von ihr nicht nur zum Thema der Macht der Konzerne in Zusammenhang mit der Corona-Politik befragt, sondern auch zur Klima-Debatte. Zu Letzererer wollte er sich aber nicht äußern, er wisse noch zu wenig darüber und könne sich dazu bisher kein Urteil anmaßen. Ja, genau so etwas wünscht man sich.
Norbert Häring schätze ich auch sehr. Es zeugt von Kompetenz und Demut, wenn er differenziert zwischen Themen, wo er Fachkompetenz aufweist und schon zu Urteilen gekommen ist, und Bereichen, wo er keine Expertise besitzt, lediglich seine Sicht ohne Wertung darstellen könnte.