Kategorien
Meinung

Kartell des Schweigens

Ohne Zweifel kann festgestellt werden, dass alles, ob nun Bedeutendes oder Profanes, eine Kommentierung von überallher erfährt. Vor der digitalen Revolution waren die Orte, an denen die Kommentare produziert wurden, die Stammtische, die Küchen und die Pissoirs. Heute ist alles im virtuellen, aber öffentlichen Raum.

Zu Recht wird zuweilen beklagt, dass die neuen Medien und der extrem einfache Zugang zu ihnen zur Folge gehabt hat, dass sich alle zu allem äußern können. Was die einen als einen Sieg der Demokratie feiern, ist den anderen die Herrschaft des Mobs. Es ist zwecklos, sich in eine Bewertung einzumischen. Denn, so der Rat eines guten Freundes in solchen Momenten: Es ist, wie es ist.

Was ohne jeden Zweifel festgestellt werden kann, ist der Umstand, dass alles, ob nun Bedeutendes oder Profanes, eine Kommentierung von überallher erfährt. Das war schon immer so, nur eben nicht sichtbar.

Vor der digitalen Revolution waren die Orte, an denen die Kommentare auf alles Wichtige oder Unwichtige produziert wurden, die Stammtische, die Küchen und die Pissoirs. Heute ist alles im virtuellen, aber öffentlichen Raum. Das hat insofern eine andere Dimension und es hat tatsächlich viel verändert.

Festzuhalten ist allerdings, dass auch die digitale Technologie – wie vorher andere – nicht an sich zu einer weiteren Demokratisierung der Gesellschaft beigetragen hat. Ganz im Gegenteil: Auch wenn die Technologie dafür nicht verantwortlich gemacht werden kann, die Nutzungsbedingungen und die tatsächliche Nutzung haben zu einer weiteren Spaltung der Gesellschaft, die sich seit Jahrzehnten in einem neoliberalen Abnutzungsprozess befindet, zumindest in starkem Maße beigetragen.

Hinz und Kunz und anderen

Es geht hier allerdings nicht um die berühmten Hinz und Kunz, die ihre Meinung im Netz publizieren. In diesem Fall geht es um diejenigen, die sich aufgrund der radikalen Öffentlichkeit zu bestimmten, wichtigen und tatsächlichen Fragen, die die Gesellschaft und ihre Entwicklung betreffen, gar nicht mehr äußern. Obwohl es sich um politisch aktive und gebildete Geister handelt, vermeiden sie es, bestimmte Ereignisse zu kommentieren. Wäre das eine durchgängige Haltung, so hätte das den Respekt verdient, den eine individuelle Entscheidung mit sich bringt. Da aber die gleichen Personen in vielen politischen Fragen sehr aktiv in unterschiedlichen Foren und Netzwerken unterwegs sind, scheint ein Nachhaken legitim zu sein.

In Bezug auf die sonstigen Äußerungen aus diesem Personenkreis wäre zu schließen, um einige Beispiele zu nennen, dass sie gar nicht einverstanden sind mit der Behandlung eines Julian Assange, dass sie es für grotesk halten, den Militarismus und seine Verwüstungen aus der Klimadebatte herauszuhalten, dass sie deutsche Waffenlieferungen in Krisengebiete für ein Verhängnis halten, dass sie die “Wahl” von Frau von der Leyen zur EU-Kommissionspräsidentin als Skandal ansehen.

Dass sie die Liquidierung bestimmter Branchen während der Lockdowns als eine gravierende Fehlleistung betrachten, dass sie das Gendern am grammatischen Genus für einen Angriff auf die Formgebung der Sprache ohne positiven politischen Aspekt ansehen, dass sie die Orchestrierung Chinas und Russlands zu Feindbildern für verfehlt halten, dass die Mission in Afghanistan alles andere war als ein Kreuzzug für die Demokratie et cetera, et cetera.

Das Kartell des Schweigens

Und obwohl diese Menschen Besseres wissen, haben sie sich für Stillschweigen entschieden. Und so, wie sie dieses tun, erscheint es wie ein Kartell des Schweigens. Wie abgesprochen sparen sie genau diese Themen aus, die in ihrer praktischen Handhabung nach Dissens schreien, konsequent und diszipliniert.

Was bleibt, ist die Frage, was die beschriebenen Menschen, die sich ansonsten durch Klugheit auszeichnen, dazu veranlasst, sich diesem Kartell des Schweigens zu verschreiben? Ist es die Angst davor, von den üblichen Meinungslöwen gemobbt zu werden? Oder ist es die Befürchtung, dass man zu wesentlich radikaleren Ansätzen kommen muss, wenn man diese Felder tatsächlich bearbeitet? Wahrscheinlich spielt beides eine Rolle. Zum Preis der Selbstaufgabe.


Frau in Weiß. (Foto: Molly Mears, Unsplash.com)

Alles beginnt mit dem ersten mutigen Schritt!

Journalismus hat eine Zukunft, wenn er radikal neu gedacht wird: Redaktion und Leserschaft verschmelzen zu einem Block – der vierten Gewalt. Alles andere ist Propaganda.


Findest Du richtig, was wir tun?

Erfahre mehr über das Projekt und unterstütze uns dabei, Journalismus radikal neu zu gestalten. Verbreite die Idee! Darum geht es. Unser Dank ist Dir sicher!

QR Code Homepage Neue Debatte

Foto: Colin Lloyd (Unsplash.com)

Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

2 Antworten auf „Kartell des Schweigens“

Danke, für diesen derzeit sehr passenden kleinen, aber feinen Artikel. Ich fühle mich da sehr angesprochen. Mein Rückzug aus bestimmten Themen ist im Artikel exakt beschrieben.

Das Schweigen derer, deren Stimme wir in der Demokratie brauchen, haben Sie wunderbar beschrieben, Herr Dr.Mersmann! Verschärfend kommt hinzu, dass gerade durch die Möglichkeit des eigenen Recherchierens im Internet und die Veröffentlichungen kritischer Geister aus unterschiedlichen Fachgebieten bekannt geworden ist, wie die Spitzen der Parteien mit Thinktanks, der Finanzindustrie und anderen kapitalistischen globalen Konzernen zum Wohle einer kleinen “Bündelung” (fascio) zusammenarbeiten.

Wie ist Deine Meinung zum Thema?

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.