Wer permanent schnell getaktet ist, verliert auf Dauer die Fähigkeit zur Kontemplation. Was damit verloren geht, zeigt sich zunehmend deutlich. Das mangelnde Vermögen, einen Schritt zurückzutreten und den Verlauf einer Geschichte zu betrachten, führt zu einer Verstümmelung des Bewusstseins (1).
Der mentale Todesstoß
Wer nicht gelernt oder verlernt hat, sein eigenes Leben Revue passieren zu lassen, braucht sich über Lernprozesse keine Gedanken mehr zu machen. Alles, was dann noch Relevanz besitzt, ist das Unbewusste. Seine Bedeutung ist auf keinen Fall zu unterschätzen, doch die der Aufklärung zugrunde liegende Rationalität ist davon meilenweit entfernt. Also: Seien wir ehrlich, wenn die Ausgangsthese stimmt, haben wir mit der Rasanz unserer Alltags- und Arbeitsroutinen die Aufklärung weit hinter uns gelassen (2). Ob es ein Schritt nach vorne war, ist zu bezweifeln.
Vieles, was heute als unumstößlich und ohne Alternative gilt, wird gerne in den Duktus von Modernität gesetzt und entpuppt sich, wenn wir es wagen, dann doch einmal die Entwicklung zu reflektieren, als eine alte, revisionistische, ja reaktionäre Position. Denn der Obskurantismus (3), der Dogmatismus, die brutale Herrschaft und ihre Inquisition waren mit dieser Denkweise gesegnet, und sie haben genau die Geister hervorgerufen, die den Widerspruch, den Wettstreit und das freie Wort beflügelten.
Der mentale Todesstoß für die oft zitierte Wertegemeinschaft des freien Westens war der Spruch, mit dem die vielfältigen Krisen der letzten beiden Jahrzehnte gemanagt wurden: There is no alternative (TINA). Von Margaret “Maggie” Thatcher bis Angela Merkel hat sich dieser anti-aufklärerische Slogan als Staatsräson etabliert und die mentale Verfasstheit der damit traktierten Gesellschaften ruiniert (4).
Der Ruin der Debattenkultur
Die Methode ist bekannt und der Hammer liegt immer bereit. Ob bei der Bankenrettung in Folge der Finanzkrise, ob bei der Krise um die Ukraine, in der ein Junktim von EU- und NATO-Mitgliedschaft als in Stein gehauene Maxime galt, ob bei der nochmaligen Bankenrettung in Folge der Griechenland-Krise, ob bei der “Lösung” der Flüchtlingsfragen nach der Beteiligung an den militärischen Konflikten, die sie auslösten, ob bei den Wahlen zum EU-Parlament und der danach gar nicht daraus resultierenden Besetzung der Ämter, bei der Position zum Afghanistan-Krieg und erst Recht beim Management der Corona-Krise: Es gab immer nur eine Position, die als die richtige galt und alles, was sich wie auch immer dagegen stellte, galt als abstrus, verrückt, terroristisch, idiotisch oder was auch immer.
Die Bilanz der Regierungsdoktrin, die keine Alternative kennt, ist der Ruin der Debattenkultur.
Die Darstellung ist eine andere. Hört man sich die Erklärungen vieler Politiker und der Vertreter des medialen Echos an, dann sind es natürlich die anderen, in diesem Fall das Volk gewesen. Neben den sprachlichen Etikettierungen, die mit der TINA-Politik einhergingen, wurden Möglichkeiten, den Teufel beim Namen zu nennen, gleichzeitig ausgeräumt. Frei nach dem Motto: Wem wir die Sprache nehmen, der wird sich nicht mehr artikulieren können. Das Rezept geht zum Teil auf, aber eben nur zum Teil.
Rückfall, Niedergang und Brüche
Vieles spricht dafür, dass der Rückfall der Gesellschaft in ein vor-aufklärerisches Stadium zu einem relativen Niedergang geführt hat, der in der Öffentlichkeit nicht kommuniziert wird und nicht kommuniziert werden darf, den allerdings die große Mehrheit der Bevölkerung durchaus sieht. Die Dissonanz zwischen Realität und Doktrin wird letztendlich zu Brüchen führen, die einiges auf den Kopf stellen werden. Ein Szenario mit sehr vielen Alternativen.

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Quellen und Anmerkungen
(1) Kontemplation bezeichnet ein konzentriertes Betrachten eines geistigen, ungegenständlichen Objekts, in das man sich vertieft, um darüber Erkenntnis zu gewinnen.
(2) Der Begriff Aufklärung bezeichnet die um das Jahr 1700 einsetzende gesellschaftliche Entwicklung, durch rationales Denken alle den Fortschritt behindernden Strukturen zu überwinden und Akzeptanz für neu erlangtes Wissen (zum Beispiel durch die Naturwissenschaften) zu schaffen.
(3) Der Begriff Obskurantismus wurde im Zusammenhang mit der Aufklärung geprägt. Er bezeichnet keine feststehende Weltanschauung, sondern wurde als kritische Bezeichnung etabliert für vermeintliche “anti-aufklärerische” Positionen. Grundlage liefert die Bedeutung des Begriffs Obskurität (Dunkelheit, Unverständlichkeit), der eine Verdunkelung im übertragenen Sinn einer Undeutlichkeit meint. Das zugehörige Adjektiv obskur wird in der Bedeutung “dunkel, unbekannt, verdächtig, von zweifelhafter Herkunft” verwendet.
(4) “There is no alternative” (“Es gibt keine Alternative”) war ein von der konservativen britischen Premierministerin Margaret Thatcher (1925-2013) häufig verwendeter Slogan. Der Satz wurde ab Mitte der 1980er verwendet, um Thatchers Behauptung zu unterstreichen, dass die Marktwirtschaft das beste, richtige und einzige System wäre, das funktioniere, und dass die Debatte darüber beendet sei. Verniedlichend fand die Abkürzung TINA Verwendung. Die Politikwissenschaftlerin und Globalisierungskritikerin Susan George, stellte dem TINA-Prinzip den Ausruf “There Are Thousands of Alternatives!” (“Es gibt Tausende Alternativen!”) entgegen, der auf “TATA!” verkürzt wurde. In Deutschland wurde unter anderem durch Bundeskanzlerin Angela Merkel das Wort “alternativlos” genutzt, um politische Entscheidungen zu rechtfertigen, die vor allem Wirtschafts- und Kapitalinteressenten dienen.
(5) Ein Junktim (auch Junktimklausel) nennt man in der Rechtswissenschaft die Bestimmung einer Rechtsnorm, dass eine im Rang unter ihr stehende Rechtsvorschrift eine bestimmte Regelung nur in Verbindung mit einer anderen Regelung treffen darf. Ein bekanntes Beispiel ist die Junktimklausel in Art. 14 Abs. 3 Satz 2 GG, wonach eine Enteignung “nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen” darf, “das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt”.
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Foto: Fer Nando (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
2 Antworten auf „Mentaler Todesstoß: Das Ruinöse einer Doktrin“
Moin. „There is no alternative“, ja, dieses “Alternativlos” ist für mich eines der Unwörter, die ich überhaupt nicht mag und welches faktisch, wie sie es gut darlegen, auch falsch ist. Es gibt immer eine Alternative – außer zum Wetter und zum Tod. Eine der Weisheiten, die mir in jungen Jahren mein Großvater schon mitgegeben hat. “Das ist alternativlos” will jede Debatte abwürgen und das wird mancher Lage einfach nicht gerecht.
Grüße von der Ostsee mit “alternativlosem” grauen Wetter ;)
Der “Ruin der Debattenkultur” ist das Ende der Demokratie wie wir sie kannten, die noch in ihren Kinderschuhen steckte und weiter zu entwickeln wäre. (vgl. Prof. Dr. Rainer Mausfeld)