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Über den Verlust an Fähigkeit bis zur Kontur einer Fratze

Es kann als Indiz für die kritische Lage des Westens gesehen werden, dass die Fähigkeit nicht mehr vorhanden ist, sich in die Lage des Gegenübers zu versetzen. Der Westen steht bereits auf dem Abstellgleis, ohne es aber zu merken. Die Begeisterung über die eigenen Taten und Wursteleien verstellt den Blick auf die Leistungen anderer.

Auf den Globus bezogen ist es endemisch, im sich als freien Westen definierenden Teil muss es als epidemisch bezeichnet werden: Es geht um das “Nicht-Vorhandensein” einer Fähigkeit, die als Grundvoraussetzung jeglicher Kommunikation zu bezeichnen ist.

Es geht um das Vermögen, sich in die Lage des Gegenübers zu versetzen, nicht um dessen Perspektive zu adaptieren, sondern um die Sichtweise zu verstehen.

Und es kann als Indiz für die kritische Lage des Westens gesehen werden, dass diese Fähigkeit nicht mehr vorhanden ist. Von renommierten Historikern bis zu Chefdiplomaten lässt sich die Malaise dokumentieren. Alle scheinen dem Wahn des vorherrschenden Moralismus verfallen zu sein.

Licht aus auf dem Abstellgleis

Wird auf gegensätzliche Sichtweisen stoßen, die unterschiedlicher historischer Erfahrungen und andersartiger kulturell bedingter Ethik entspringen oder aus einer spezifischen Interessenlage resultieren, geht man zunehmend im Westen davon aus, es mit Feinden der Menschheit, psychotischen Individuen oder Diktatoren zu tun zu haben.

Das Bequeme an dieser Haltung ist die Vermeidung von Kontroversen im eigenen Lager und die Gewissheit, für die eigene Kompromisslosigkeit auch noch kollektiv gefeiert zu werden. Das Verheerende dieser Sichtweise und Haltung ist die zunehmende Isolation in einer vielfältig vernetzten Welt.

Die Lage hat sich zugespitzt. Was hier an getwitterten Statements von irregeleiteten Diplomaten und Politikern gefeiert wird, löst im Rest der Welt Kopfschütteln aus. Selbst die Wohlmeinendsten runzeln besorgt die Stirn und fragen sich, was sich denn da ereignet hat auf den historischen Schollen der Aufklärung. Wo einst Licht war, ist es heute stockfinster.

Die nahezu kollektive Unfähigkeit, einen Perspektivenwechsel vorzunehmen und sich in die Sichtweise der anderen Akteure in einer globalisierten Welt hineinzuversetzen, hat zu einer moralischen Verurteilung aller geführt, die sich nicht der eigenen Programmatik anschließen.

Das Tragische an dieser Entwicklung ist nicht nur die zunehmende Isolation vom Rest der Welt, sondern auch die wachsende Unfähigkeit, von woanders stattfindenden Entwicklungen zu lernen. Wenn man so will, steht der Westen bereits auf dem Abstellgleis, ohne es zu merken. Ganz im Gegenteil! Die Begeisterung über die eigenen Taten und die als auf Sicht fahren bezeichneten Wursteleien verstellt den Blick auf die ohne jeden Zweifel vorhandenen Leistungen anderer.

Die Kontur einer Fratze

Im Rausch der Gelddruckmaschinen, mit denen eine Wohlstandsfülle simuliert wird, die auf Blasen beruht, wiegt man sich in Sicherheit und immer auf der richtigen Seite. Das alleine wäre schon fatal genug, wenn nicht noch hinzukäme, dass man angesichts der ungeheuren Geldmengen, die in die Investition von Rüstungsgütern fließen, meint, die Option zu haben, auf Konfrontation – auch militärischer Art – setzen zu können (1).

Im Übrigen eine fatale Selbsteinschätzung, die niemand hinter vorgehaltener Hand mehr beklagt als die Verantwortlichen aus dem Militär selbst. Es würde nicht wundern, wenn ausgerechnet aus diesem Lager irgendwann die Stimme der Ratio spräche und den moralistischen Brandstiftern die Rote Karte zeigte. Das wirkte wie ein inszenierter Schock, wenn die gepriesenen Bürger in Uniform der heiligen Inquisition der Neuzeit die Leviten läsen!

Das Befremdende und letztendlich Groteske ist die Tatsache, dass eine politische Kultur, die nach zwei Weltkriegen und kolonialen Plünderungszügen einst beschwor, sich gegen analoge Entwicklungen stets stellen zu wollen, mittlerweile schlimmere Konturen annimmt als ihr negatives historisches Beispiel. Da herrschten Einfalt, Großmannssucht und Gewalt. Es wird weitergetrieben – bis zur Kontur einer Fratze.


Frau im Irrgarten. (Foto: Andrew Loke; Unsplash.com)

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Quellen und Anmerkungen

(1) RT (22.10.2021): Kramp-Karrenbauer spricht sich für atomare Drohung gegen Russland aus. Auf https://de.rt.com/international/126053-kramp-karrenbauer-spricht-sich-fur (abgerufen am 22.11.2021).


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Foto: Seyi Ariyo (Unsplash.com)

Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

4 Antworten auf „Über den Verlust an Fähigkeit bis zur Kontur einer Fratze“

Wer sich nicht bemüht, die Sichtweise des Anderen zu verstehen driftet durch fehlende Kommunikation, Einfalt, Großmannssucht und Gewalt in die Kontur einer Fratze. Aus der Friedensbewegung in den demokratischen Widerstand gekommen habe ich mich mehr mit dem Grundgesetz beschäftigt. Deshalb kann ich ergänzen: Nach Artikel 5 hat jeder das Recht seine Meinung in Wort, Schift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. Erst die Pluralität der Meinungen, das Auseinandersetzten mit anderen Meinungen, schafft Demokratie! Was hat Winston Churchill gemeint, als er sagte: “Die Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen – aber ich kenne keine bessere?” Richtig! Demokratie ist zwar anstrengend – aber hat ein Gesicht.

Ein wunderbarer Aufsatz. Knapp und präzise auf den Punkt gebracht. Chapeau!
Nur eine der aneinandergereihten Sentenzen halte ich für höchst unwahrscheinlich: dass es die Militärs sein könnten, die dem denkungslosen Kompromissmangel auf die Sprünge helfen könnten und den Perspektivwechsel einfordern könnten.
Die momentane Pulverfass Situation (Westen vs. Russland) ist ja in der Hauptsache auf eben diese Militärs zurückzuführen. Die EU als Wirtschaftsgemeinschaft lässt es seit Jahren geschehen, dass die NATO als heimlicher Schrittmacher den Staatenverbund zur Osterweiterung vor sich hertreibt. Das Ziel, die “Umarmung” Russlands ist ein militärisches und wird sehend akzeptiert. Die Reaktionen des umarmten “Gegners” werden im Westen aber nur und ausschließlich als unzumutbare Aggressionen gewertet.
Für uns Deutsche besonders fatal. Weil wir zur Erlangung unserer Wiedervereinigung als einen wichtigen Baustein das politische Versprechen eingebracht hatten uns an einer militärischen Osterweiterung nicht beteiligen zu wollen. Mit solchen gebrochenen Zusagen lebt es sich heute aber unverdrossen.
Und noch ein Gedanke der sich nach dem Lesen des Aufsatzes aufdrängt: solange die zitierten kolonialen Plünderungszüge nicht wirklich beendet sind und das sind sie in aller Konsequenz erst dann, wenn die überquellenden Magazine der Museen von dem Diebesgut geräumt sind und dieses Diebesgut den rechtmäßigen Eigentümern zurückgegeben ist. In aller Reue und Demut.

Vielen Dank für das Feedback! Dass das Militär dem Wahnsinn ein Ende bereiten wird, halte ich auch für eher unwahrscheinlich. Was mir auffiel, und zwar seit der unsäglichen Ukraine-Krise bis zu Afghanistan war, dass ausgerechnet aus dem kreise der Militärs Einschätzungen zu vernehmen waren, die sich an den Realitäten orientierten und nicht die aus der Politik formulierten Wunschbilder der Lage wiederholten. Das hat mich erstaunt, ob es beruhigen kann, wird sich noch herausstellen. Ihre letzte Bemerkung, in der es um eine tatsächliche Aufarbeitung des Kolonialismus, unterstütze ich voll. Allerdings ist Demut eine Kategorie, die momentan nicht sonderlich verbreitet ist!

Ja danke, ich weiß sehr wohl, dass Demut äußerst unmodern geworden ist. Ich wollte damit folgendes zum Ausdruck bringen: Demut ist eine Haltung die Reue nach außen zeigt. Es ist die selbstverständliche Haltung die von einem Dieb gefordert wird, bei der Zurückgabe des Diebesgutes. Der Rückgabeakt sollte nicht zu einem feierlichen Hochamt eines Gnadenerweises mutieren, wie dies erst kürzlich durch Politik, Kulturkreise und (leider) Feuilleton-Journalismus im Zuge der anstehenden Rückgabe der Benin Bronzen geschehen ist. Aber das hat jetzt nicht unmittelbar mit Ihrem Aufsatz zu tun. Es ist ein Sonderthema. Ich wollte meine Gedanken hierzu nur unverbindlich zur Anmerkung bringen.

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