Ein eigenartiges Gefühl hat sich breitgemacht. In Zeiten, in denen eine abermalige Globalisierung die Welt so tief gespalten hat in Arm und Reich, wie es war, bei allen Globalisierungen davor auch. Und wie bei ihren Vorläufern haben sich ausgerechnet in den Zentren der Profiteure bestimmte Milieus herausgebildet, die ihr eigenes Glück, das aus dem Reichtum resultiert, in seinen Auswirkungen beklagen.
Die Patrizier
So frivol kann Geschichte sein. Und wenn wir uns schon in der Dimension von Geschichte bewegen, dann können wir auch Begriffe verwenden, die aus ihr stammen. Wir haben einen Stand der Patrizier, der schillernder nicht sein könnte (1). Saturiert durch die Gewinne aus der Globalisierung, beklagen sie die Schäden, die diese und die ihr zugrunde liegende Produktionsweise hervorbringen.
Dabei geht es ihnen vor allem um die Vernichtung von Ressourcen, die der kapitalistische Hunger nach ständigem Wachstum vernichtet. Die Ressource Mensch, sprich die Plebejer, interessieren den Stand der Patrizier allerdings nicht (2). Sie sind so arm wie lange nicht mehr, sie kommen mit den ihnen gezahlten Löhnen nicht mehr aus, ihnen gelingt es trotz fleißiger Arbeit nicht, sich selbst und ihren Kindern ein Dasein in Würde aus eigener Kraft zu gestalten.
Damit das funktioniert, ist dafür gesorgt worden, dass ein Heer von potenziellen Konkurrenten passiv und staatlich alimentiert bereitsteht. Ihre Existenz ist keine Wohltat, sondern die Kofinanzierung der Gewinne der aktiven Patrizier.
Es ist wichtig, im Lager der Patrizier zu unterscheiden. Da gibt es diejenigen, die aktiv sind und danach streben, den bereits vorhandenen Reichtum zu mehren. Und es existiert ein Milieu von passiven Patriziern, die die Art und Weise des agierenden Systems beklagen, ihm aber ihre Existenz und die Möglichkeit zum Müßiggang verdanken.
Die Situation mutet absurd an, aber vielleicht ist das, aus dem der Stoff der Dekadenz gemacht ist. Der müßigste und unproduktivste Teil der herrschenden Patrizier hat die Hoheit über die geistige Befindlichkeit der Gesellschaft. Ihre Appelle, verfolgt man sie nach dem Prinzip strenger Logik, müssen im Nichts verpuffen, solange sie nicht das System selbst treffen, dem die Missstände entspringen. Das hieße jedoch, dass die Grundlage der eigenen Existenz angegriffen würde. Nach dem Prinzip der Selbsterhaltung ist dieses aber nicht der Fall.
Tunica propior pallio
So traurig das alles sein mag, aber der alles beherrschende Zeitgeist ist eine Schimäre, die in der nächsten großen Krise entlarvt werden wird. An großen Krisen mangelt es derweilen nicht, und in ihnen wird immer deutlicher, wie das passive, scheinbar liberale Patriziertum sich abwendet von der vermeintlich humanistisch-ökologischen Lehre und ihr Heil sucht in Zentralismus, staatlichem Durchgriff und militärischer Konfrontation.
Daher wird alles, worüber sich viele Menschen in diesen Tagen so trefflich aufregen, irgendwann in den Geschichtsbüchern nur noch als eine Randnotiz, die einem Treppenwitz gleicht, erscheinen. Tunica propior pallio; das Hemd sitzt näher als der Rock. Daran hat sich nichts und daran wird sich nichts ändern.
Momentan dominiert noch die dem Müßiggang entsprungene Lebensbeichte der passiven Patrizier das Geschehen. Warum? Weil es ein angenehmes Leben widerspiegelt, das weit entfernt ist von den Plagen, die individuelle wie gesellschaftliche Leistung mit sich bringen. Viele wären gerne schick, ohne sich plagen zu müssen. Sie wären gerne Patrizier. Welch niedriges Lebensmotiv!

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Quellen und Anmerkungen
(1) Patrizier war die Bezeichnung für Angehörige des römisch-antiken Patriziats, der alteingesessenen und senatsfähigen Oberschicht im antiken Rom. Die aristokratische Herrschaft des bürgerlichen Patriziats wird als Städtearistokratie bezeichnet.
(2) Plebejer waren in der römischen Republik alle Bürger, die nicht dem alten Erbadel, den Patriziern angehörten. Zu den Plebejern zählte die große Mehrheit der Römer, vor allem Bauern, Handwerker, Händler und Wohlhabende. Die wohlhabenden Plebejer stellten die politische Vorherrschaft der Patrizier infrage.
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Foto: Ben Sweet (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.