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Meinung

Contenance, Danse macabre oder kühler Kopf?

Das Mandat aufgeklärten Handelns, die Erwägung des unter den gegebenen Umständen notwendigen und vernünftigen Agierens, ist eine Minderheitsoption, zumindest gegenwärtig.

Ansteigende Inflation, neue Mutanten, wirtschaftlicher Niedergang ganzer Branchen, wachsende Kriegsgefahr im Osten: die Botschaften, die nach Hiob benannt sind, häufen sich in einer Dichte, dass für viele Menschen das Maß des Erträglichen überschritten ist.

Die Reaktionen drauf sind unterschiedlich. Sie entsprechen den Typologien, in denen der Homo sapiens zu Hause ist.

Einige verfallen in Depression, andere werden zornig, wieder andere fühlen sich, als müssten sie morgen sterben und feiern ein letztes Bacchanal (1). Das Mandat aufgeklärten Handelns, die Erwägung des unter den gegebenen Umständen notwendigen und vernünftigen Agierens, ist eine Minderheitsoption, zumindest gegenwärtig.

Die Mahnung, Contenance zu bewahren, das heißt sich nicht verrückt machen zu lassen und sich nicht zu unüberlegten Handlungen hinreißen zu lassen, ist eine Position, für die vieles spricht. Wenn sie allerdings in der Mahnung zur Ruhe und einer nicht mehr vorhandenen Ordnung verhaftet bleibt, wird sie zu nichts führen. Denn es ist die Zeit, sich mit den Ursachen der vielen Krisen zu befassen. Es geht nicht mehr um einzelne isolierte Maßnahmen, sondern um ein Portfolio von Überlegungen.

Danse macabre – Der Totentanz

Das depressive Momentum entzieht sich jeglicher Vernunft, ist allerdings kaum beeinflussbar, weil es sich um ein pathologisches Phänomen handelt, das aus einer chronischen Überforderung und Perspektivlosigkeit resultiert und sich als desaströse Auswirkung des bis dato beschrittenen Weges erklären lässt.

Die politische Depression ist nur langfristig zu kurieren, in dem die Politik einen anderen Verlauf nimmt und sich radikal ändert. Die Konkordanz von Regel und Sanktion, das Mantra der existierenden Politik, ist Bürde genug. Nichts ist dadurch besser geworden, es verstärkt nur die Impulse, die zu einer desolaten Existenz führen.

Das Gefühl, noch einmal das Sein bis zum Exzess zu feiern, ist eine typische Begleiterscheinung von epidemischen Katastrophen. Der Macabre, jener wilde Tanz im Angesicht des wahrscheinlichen Todes, führt zu einer letzten illusionären Erlösung, die das Debakel nur beschleunigt und nicht verhindert (2).

Um was es geht

Noch verhängnisvoller ist die Option des Aussitzens. Wer glaubt, sich durch das mentale Eingraben in die Konditionen des Hier und Jetzt retten zu können, hat den Zusammenhang von Ursache und Wirkung aus den Augen verloren und besitzt nicht einmal mehr die Gewissheit, irgendwann noch einmal aus dem Loch herauskommen zu können und den Blick auf die Außenwelt schweifen zu lassen.

  • Es geht um Programme und Konzeptionen, die das Ganze im Blick haben. Sie müssen sich befassen mit einer exklusiv auf Wachstum bezogenen Wirtschaftsweise, die in Kauf nimmt, ständig neue Bedürfnisse zu kreieren, Ressourcen kontinuierlich zu verschleißen und nach ihnen mit kriegerischen Mitteln zu greifen.
  • Es geht um eine damit verbundene Geldpolitik, die tatsächliche Wertschöpfung ignoriert und spekulative Eskapaden einiger weniger unterstützt.
  • Es geht um die Anerkennung unterschiedlicher gesellschaftlicher Vorstellungen in dieser Welt und nicht die Vorstellung, sie mit Gewalt nach den eigenen Maximen formen zu wollen.
  • Und es geht um eine Vision, die interessengeleitete Werte im Blick hat, in der niemand von der Befriedigung der elementaren Bedürfnisse ausgeschlossen wird, in der die Bildung und Qualifizierung der Menschen im Zentrum steht, in der eine Kultur der Kommunikation herrscht, die den Namen verdient hat und in der die Sicherung des Friedens im Mittelpunkt steht.

Die einzige Option, die tatsächlich zur Disposition steht, ist der kühle Kopf. Verändern, was verändert werden muss. Bekämpfen, was spaltet und ignorieren, was vertröstet und Illusionen nährt.


Frau in einer gelben Badewanne. (Foto: Brandi Ibrao, Unsplash.com)

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Quellen und Anmerkungen

(1) Ein Bacchant (auch Bakchant) ist ein Teilnehmer einer Kultfeier oder Orgie des Gottes Dionysos, der von der Gottheit ergriffen wird und zu rasen beginnt. Dionysos ist in der griechischen Götterwelt der Gott des Weines, der Freude, der Trauben, der Fruchtbarkeit, des Wahnsinns und der Ekstase. Von den Griechen und Römern wurde er wegen des Lärms, den sein Gefolge veranstaltete, auch Bacchus (“Rufer”) oder Bakchos genannt oder auch Bromios (“Lärmer). Die Bacchusfeste (auch Bacchanalien von lat. Bacchanalia) im antiken Rom, waren Feierlichkeiten, die von den Bacchanten und Bacchantinnen oft mit wildester Ausgelassenheit zelebriert wurden. Das Fest wurde ab dem 2. Jahrhundert v. Chr. gefeiert und fand jährlich am 16. und 17. März am Hügel Aventin in Rom statt.

(2) Der Makabertanz oder Totentanz (französisch Danse macabre) ist die im 14. Jahrhundert aufgekommene Darstellung des Einflusses und der Macht des Todes auf beziehungsweise über das Leben der Menschen. Die bildliche Darstellung von Tanz und Tod sind meist gleichzeitig zu finden.


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Foto: Marc A. Sporys (Unsplash.com)

Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

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