Sehr oft haben wir die Neigung, nur dem Aufmerksamkeit zu schenken, was materiell ist, was in Zahlen bemessbar ist. So haben wir die Tendenz, das Elend, das in dieser Gesellschaft herrscht, allein unter dem Gesichtspunkt der materiellen Armut oder anders gesagt, des Mangels an Geld zu betrachten.
Doch der Kapitalismus entreißt uns nicht nur die materiellen Mittel, um auf die Weise zu leben, wie wir es für gut halten. Er verpflichtet uns nicht nur arbeiten zu gehen und uns vor den sozialen Hilfsinstitutionen niederzuknien. Er auferlegt uns nicht nur in einer Umwelt zu überleben, die von der Industrie verseucht, von ihrer Produktion unnützer und schädlicher Gegenstände vergiftet und durch ihre großartige Atomgerätschaft verstrahlt ist, die angesichts der Risiken und Katastrophen, die sie mit sich bringt, alle Menschen vom Staat und seinen Spezialisten abhängig macht. Nein, es ist nicht nur das.
Vielleicht noch schlimmer als die materielle Verarmung ist das in dieser Gesellschaft vorherrschende emotionale Elend, das von der Gesamtheit der sozialen Verhältnisse hervorgerufen wird, die dieser Welt das dreckige Gesicht geben, das sie hat.
Wir machen eine Depression nach der anderen durch, wir erleben einen Selbstmord nach dem anderen, wir leben Beziehungen und Verhältnisse, die von Misstrauen, Konkurrenz, Gewalt und Heuchelei geprägt sind. Die zahlreichen unterschiedlichen Drogen lassen uns für eine kurze Zeit die unschöne und brutale Realität vergessen. Unsere Träume und Verlangen gehen nicht über den tristen Horizont des Bestehenden hinaus: das Abenteuer, das Unbekannte, die Leidenschaft… werden verbannt und wir können sie nur stellvertretend erfahren (in Filmen, Videospielen,…). Die Betrübtheit legt uns ebenso sehr in Ketten, wie der Schatten der Gefängnisse, die Schinderei der Arbeit, die Notwendigkeit des Geldes.
Für dieses weniger “sichtbare” intimere Elend hat diese Welt sogar eine ganze Palette von “Wunderheilern” und “Gegenmitteln” erfunden. Von Psychiatern bis zu Psychologen, von Drogen bis zu Antidepressiva, von “Ventil”-Momenten wie dem Samstagabend in der Disco oder dem Fußballmatch am Tag darauf, bis zum Schein von erlebtem Glück als Zuschauer hinter irgendeinem Bildschirm (interaktiv wie beim Internet oder passiv wie beim Fernseher)… Auf dem affektiven und emotionalen Elend wurde ein ganzer Markt aufgebaut. Doch hier wird, noch weniger als für die materielle Armut, kein “Gegenmittel” jemals genügen. Die Betrübtheit kommt immer wieder zurück, sie klammert sich an den Menschen fest, sie verfolgt sie und jagt ihnen nach…
“In einer Gesellschaft wechselseitiger Bewertung wird auch die Freundlichkeit kommerzialisiert.”
– Byung-Chul Han; Philosoph
Aber es gibt auch andere Dinge. Durch die Macht gut verborgen, durch die Gewohnheit weit weggestoßen, durch die soziale Ordnung stark erstickt. Es ist keine Flucht, es ist kein endgültiger Abschied von der Betrübtheit, doch es ist ein Anfang: Von dem Moment an, in dem wir uns entscheiden, nicht mehr zu erdulden, sondern zu handeln; nicht mehr zu resignieren, sondern zu revoltieren; uns nicht mehr dahinzuschleppen, sondern zu leben, beginnt die Betrübtheit dahinzuschwinden.
Wenn wir uns auflehnen, machen wir nicht nur einen offensiven Schritt gegen das, was uns erstickt und uns unterdrückt, sondern, vielleicht noch viel wichtiger, erobern wir die Freude zu leben, die Heiterkeit der Beziehungen unter komplizenhaften Aufständischen, die Offenheit und den Wagemut in dem, was wir denken, und dem, was wir tun.
Das “Glück” liegt nämlich nicht in der Anhäufung von Geld, in der Ausübung von Macht über andere, in irgendeinem Jenseits, sondern beispielsweise in der süßen Kohärenz zwischen unserem Denken und unserem Handeln.
Die Betrübtheit kommt daher, dass wir uns selbst nicht wiedererkennen können, wenn wir uns im Spiegel anschauen, direkt in die Augen. Dass die Freimütigkeit unseres Wesens, unserer Gedanken, unserer Handlungen durch Misstrauen, Zurückgezogenheit und Abstand ersetzt wurde. Dass unser Leben keinen Sinn zu haben scheint, da ihn diese Welt uns niemals geben wird. Dass wir aufgehört haben, zu versuchen, die Fähigkeit zu erobern, unseren Leben selber den Wert zu geben.
Denn der ganze Reichtum unserer Leben liegt hier; vor unseren Augen. Es reicht, die Arme auszustrecken, unsere mit Überzeugung, Ideen und Freiheit bewaffneten Hände. Und durch die Anstrengung der Freiheit, durch die Revolte gegen eine sinnentleerte Existenz werden wir die Finsternis aus unseren Herzen vertreiben.
Redaktioneller Hinweis: Das Essay “Armut” wurde in Hors Service (März 2011, Nr. 27, Brüssel), eine anarchistische Zeitung, die auf Französisch und Niederländisch erscheint und unentgeltlich verteilt wird, veröffentlicht. Die deutsche Erstübersetzung erschien in “Aufruhr – Anarchistisches Blatt” (Zürich, Nummer 5, Jahr 1). Die Anarchistische Bibliothek hat den Text archiviert. Neue Debatte hat das Essay übernommen, um eine kritische Diskussion über die soziale Ungleichheit anzuregen. Einzelne Absätze wurden eingefügt und zur besseren Lesbarkeit im Netz hervorgehoben.

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Foto: Alexandre Boucey (Unsplash.com) und Byung-Chul Han
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