Es fällt auf, dass die Eckpunkte des vor der Unterzeichnung stehenden Koalitionsvertrages relativ wenig Resonanz in der Öffentlichkeit zur Folge hatten (1). Obwohl darin genug nicht steht, was zumindest die Wählerinnen und Wähler der beteiligten Parteien, mit Ausnahme der FDP, enttäuscht haben müsste. Diejenigen, die sich anders entschieden haben, sind davon ohnehin nicht begeistert.
Es fällt weiterhin auf, dass im Gegensatz zu der Nonchalance, mit der das Regierungsprogramm aufgenommen wurde, die Benennung einzelner Ministerinnen und Minister für die jeweiligen Ressorts zu sehr emotionalen Reaktionen führt. Liest man die aktuellen Kommentare, die zu den neuen Köpfen geschrieben wurden, dominiert das Entsetzen.
Diese Art der Reaktion dokumentiert einen Wandel in der mehrheitlich wahrgenommenen Vorstellung des politischen Systems. Durch die vor allem von den öffentlichen Medien vorexerzierten Triells (2) wird der Eindruck suggeriert, dass wir es hier mit einem präsidialen Regierungssystem zu tun haben, in dem es exklusiv auf die Personen ankommt, die bestimmte Positionen bekleiden. Zumindest von der Verfassung ist das nicht so vorgesehen (3). Da ist die Rede von einem Parteiensystem, das seinerseits nach eigenem Programm und bei notwendigen Koalitionen den ausgehandelten Kompromissen als Regierungsgrundlage ausweist und umsetzt.
Betrachtet man Verlauf wie Inhalte der Koalitionsverhandlungen, dann ist dieses auch so geschehen. Jeder, der jetzt entsetzt auf die Benennung einzelner Ministerposten reagiert, wäre gut beraten gewesen, auf die jeweiligen Parteiprogramme zu achten und sich ein Bild zu machen (4).
Das Personal
Selbstverständlich spielen die jeweiligen Personen, die Programme in Regierungshandeln umzusetzen haben, eine wichtige Rolle. Ihre Fähigkeiten zu strategischem Denken, zu schnellem Handeln in komplexen Situationen und zu einer verständlichen und vor allem die Verhältnisse vermittelnden Kommunikation sind ein entscheidender Faktor.
Die Frage, die sich stellt, ist die, ob die nun benannten Personen zu dem Programm stehen, das nun auf dem Tisch liegt und ob sie die erwähnten Fähigkeiten mitbringen, die legitimes wie effektives Regierungshandeln erfordern. Wenn nicht, dann mag es vielleicht an dem Portfolio des zur Verfügung stehenden Personals liegen und die Frage als berechtigt erscheinen lassen, was insgesamt an der Entwicklung der Partien schief gelaufen ist.
Schlimmer wird es, wenn im Ressort der als Opposition agierenden Parteien das gleiche Dilemma herrscht. Wer jetzt aufgrund der genannten Namen die Hände über dem Kopf zusammenschlägt und nicht gleichzeitig andere nennen kann, die aus seiner oder ihrer Sicht wesentlich besser geeignet wären, sollte sein Augenmerk auf etwas anderes richten.
Funktion, Sozialisation, Karriere
Zum einen wäre die bereits erwähnte Frage interessant, wie Politikerrekrutierungen und politische Sozialisationen und Karrieren verlaufen, dass die vorhandene Auswahl nicht zufriedenstellt. Und es sollte zudem darüber nachgedacht werden, inwieweit die Institutionen und Apparate konzipiert sind, denen die neuen und alten Gesichter vorstehen werden.
Gute Organisationen sind in der Lage, auch Novizen und Unbeherrschte von den schlimmsten Verfehlungen abzuhalten. Wenn in den Institutionen und Apparaten genügend qualifiziertes Personal vorhanden ist, dass nicht nur Sachkenntnis, sondern auch die Fähigkeit zum Widerspruch mitbringt, lassen sich bestimmte Katastrophen verhindern. Ist dem nicht so, dann stellt sich auch hier die Frage, was schief gelaufen ist in puncto Funktionsweise, Sozialisation und Karriere.
Wer sich jetzt entsetzt, hat sich allzu lange blenden lassen. Es kommt so, wie es kommen musste.

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Quellen und Anmerkungen
(1) Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg: Koalitionsvertrag 2021–2025 zwischen SPD, Grünen und FDP. Auf https://www.bundestagswahl-bw.de/koalitionsvertrag-2021#c79840 (abgerufen am 8.12.2021).
(2) Die Idee des Triells stammt aus der Mathematik. Das Triell ist eine Variante des Duells mit drei anstatt mit zwei Kämpfern. Bekannt wurde das Triell durch seine paradoxe Eigenschaft, dass unter bestimmten Bedingungen gute Schützen gegenüber schlechten Schützen im Nachteil sind.
(3) Bundesamt für Justiz: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Ausfertigungsdatum: 23.05.1949). Auf https://www.gesetze-im-internet.de/gg/BJNR000010949.html (abgerufen am 8.12.2021).
(4) Bundestagswahl 2021: Alle Wahlprogramme für die Bundestagswahl 2021. Auf https://www.bundestagswahl-2021.de/wahlprogramme (abgerufen am 8.12.2021).
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Foto: David Pupaza (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
Eine Antwort auf „Funktion, Sozialisation, Karriere: Es kommt so, wie es kommen musste!“
Wie heißt es so schön: “Jedes Staatsvolk hat die Regierung, die es verdient!” Wie lange ist es vorbei mit dem Volk der Dichter und Denker? Nach dem Willen derer, die sich als Eliten wähnen, wurden Berufspolitiker entwickelt und installiert. Frei jeglicher Bodenhaftung, nur der Kaste der Ultrareichen verpflichtet. Was habe ich gerade im “Club der klaren Worte – Größter Skandal seit Bestehen der ARD” gelesen?
Alles fängt mit dem ersten Schritt an! Der erste Schritt heißt: Den Fernseher entsorgen!