Wenn ungenügendes Regierungshandeln keine Konsequenzen mehr hat, weil die Vierte Gewalt (1) Fake News am laufenden Band produziert, beharrlich an Feindbildern arbeitet und ansonsten den Amtsträgern artig die Hand leckt, weil die vermeintliche Opposition die mangelhafte Geschäftsführung bereits als Normalzustand akzeptiert hat, weil die Gewerkschaften verträumt vor der Vitrine ihrer eigenen glorreichen Vergangenheit stehen und nicht begreifen, dass Macht durch Kampf entsteht, weil ein immer größerer Teil andere Sorgen und deren Tag zu wenig Stunden hat, und weil der Rest der Verwahrlosung des Individualismus anheimgefallen ist, – dann sollte man sich über die Abwicklung ernsthaft Gedanken machen.
Anlass für diese Beschreibung ist die Feststellung des neuen Gesundheitsministers, dass bei einer Inventur ein Mangel an Impfstoff festgestellt wurde (2). Und obwohl die Aussage bereits einige Tage alt ist, hat noch niemand die Frage gestellt, wer denn dafür verantwortlich zeichnet. Der Neue kann es nicht sein, wahrscheinlich hat es der Parvenü aus dem Münsterland zu verantworten.
Unabhängig von einer Bewertung der gesamten Corona-Politik und unabhängig von einzelnen Akteuren: die Defizite, die unter normalen Umständen zumindest zu verbalen Aufständen führen müssten, haben sich als Material für Skandale abgenutzt. Das war bei der primären Beschaffung der Impfstoffe durch die EU so, das ist bei der fortschreitenden Beschränkung verfassungsmäßiger Rechte so, das war bei der Räumung Afghanistans so, das war bei den Maskendeals durch Bundestagsabgeordnete so, das war bei Sanierungsprojekten a la Gorch Fock so, das war bei der Autobahn-Maut so etc, etc. …
Vielleicht wäre es einmal ein Samstag-Abend-Quiz wert, den ganzen Pfusch dem Publikum in Form einer anschließenden Tombola zu präsentieren, damit deutlich wird, wie sich die Regierungsführung seit Jahren konsequent gebärdet.
Stattdessen trötet es aus dem zweitgrößten Parlament der Welt ohne Unterbrechung, dass wir im Land der Weltmeister leben. Mal im Fußball, mal im Export. Wer das noch glaubt, dem sei ein Blick in die internationale Presse empfohlen, denn dort ist – neben den Fakten – das Entsetzen über den Absturz von “Good old Germany” ziemlich groß. Dass nun in der Erklärung der neuen Bundesregierung beschrieben wird, dass der Hebel gegen den Klimawandel in hier zu entwickelnden Technologien zu finden sein wird, ist angesichts der Zustände in Wissenschaft und Bürokratie ein sehr ehrgeiziges, wenn nicht gar illusionäres Vorhaben.
Nichts gegen Windkraft, nichts gegen Solarenergie, aber eine Abkehr von Misserfolgen, die aus dem Scheitern an Komplexität und Interdependenz resultiert, wird nicht durch den Einsatz anderer Technologien oder Rohstoffe allein zu machen sein.
Die Erneuerung des politischen Systems kann nur gelingen, wenn die Eigendynamik der Bürokratie gebrochen und eine zeitgemäße Administration geschaffen wird, wenn die staatlich alimentierten Claqueure schlechter Regierung in den Ruhestand versetzt und durch kritische Geister ersetzt werden, die dort hingehen, wo es wehtut, wenn diejenigen, die ohne Leistung gut und gerne hier leben, sich an den Kosten für die Rahmenbedingungen adäquat beteiligen und wenn diejenigen, die die Bevölkerung und ihren Willen vertreten wollen, durch ihre Haltung und ihr Benehmen nachweisen, dass sie wissen, wer in diesem Falle Koch und wer Kellner ist.
Das Wursteln nach dem Motto “Kann schon mal passieren” führt, je länger es dauert zu großem Groll und großer Verzweiflung. Wer es mit Ausgrenzung gegen alle, die den Missstand sehen und benennen zu bagatellisieren sucht, will anscheinend das Spiel bis zum bitteren Ende spielen. Genau dort, wo es wehtut. Heilige Einfalt!
Quellen und Anmerkungen
(1) Vierte Gewalt (auch vierte Macht oder publikative Gewalt) wird als informeller Ausdruck für die öffentlichen Medien (zum Beispiel Presse und Rundfunk) verwendet, wodurch unterstellt wird, dass es in einem System der Gewaltenteilung eine vierte Säule gebe. Neben Exekutive, Legislative und Judikative wären dies die Medien, die zwar keine eigene Gewalt zur Änderung der Politik oder zur Ahndung von Machtmissbrauch besitzen, aber durch Berichterstattung und öffentliche Diskussion das politische Geschehen beeinflussen können.
(2) HNA (16.12.2021): 60 Millionen Corona-Impfdosen fehlen – Was Karl Lauterbach jetzt plant. Auf https://www.hna.de/politik/corona-karl-lauterbach-alarm-impfstoff-mangel-biontech-moderna-gesundheitsminister-news-tn-91180323.html (abgerufen am 20.12.2021).

Alles beginnt mit dem ersten mutigen Schritt!
Journalismus hat eine Zukunft, wenn er radikal neu gedacht wird: Redaktion und Leserschaft verschmelzen zu einem Block – der vierten Gewalt. Alles andere ist Propaganda.
Foto: Joanna Nix-Walkup (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
Eine Antwort auf „Dort hingehen, wo es wehtut!“
Nutzen wir die Inkompetenz des Systems! Warum denn Impfstoff (für alle), wenn es Medikamente (nur für Kranke) gibt? Damit wird zwar nicht so viel verdient, aber es hilft, wo es helfen soll.