Recht ist ein ambivalentes Verhältnis. Es ist die Gesamtheit wechselseitiger Verhaltensregeln, die in staatlichen Gesetzen niedergeschrieben sind. Das Mandat dazu erhält die Partei oder Koalition, die über die Mehrheit im Parlament verfügt. Gesetzesrecht ist kein Zustand aus der Ungleichheit in der gegebenen Gesellschaftsordnung. Weicht die schriftliche Fixierung des Rechts von den universellen Rechten des Einzelnen ab, entstehen Probleme. So ist der heutige deutsche Rechtsstaat in Teilen problembehaftet, auch weil er die universellen Rechte der Gleichheit, des Lebens, der Arbeit, der Würde und viele mehr unvollkommen in seinen Gesetzen aufgenommen hat.
Bei der schrittweisen Formierung des Rechtsstaates in den Anfängen der menschlichen Geschichte verfolgte er drei Grundziele: Die Machtsicherung einer gottgewollten Herrschaftsordnung, die Verpflichtung der Untertanen zur zunächst unentgeltlichen Arbeit und zu Dienstleistungen für die Herrschaft (später für den Staat per Steuerzahlung und Wehrdienst) und Vermeidung von andauerndem Streit in der Gemeinschaft.
Im Verlauf der Entwicklung wurde der Besitzanspruch der oberen Etagen über Grund und Boden in Grundbüchern festgelegt. Die Nutzung per Pacht, der Übergang des Eigentums wurde in gesonderten Dokumenten geregelt, zum Beispiel in der jure regalia (1) des Königs (siehe: Kleines Lexikon des Mittelalters, Verlag C.H. Beck).
Ab dem 19. und 20. Jahrhundert regelt in Deutschland das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) die grundsätzlichen Verhältnisse des praktischen Lebens mit gegenwärtig etwa 2350 Paragrafen, zuzüglich 248 Paragrafen des Einführungsgesetzes zum BGB mit neun Anlagen. Wikipedia zählt insgesamt 6384 Gesetzeswerke, die die Wirtschaft, Verwaltungen sowie die Wohn- und Verkehrsverhältnisse ordnen sollen. Hinzu kommen noch Normen für die Bildung, Gesundheit, Kultur und die Versicherung. Die Krönung des Tsunamis aus Paragrafen ist das Sozialgesetzbuch mit 2162 Seiten und ihren kaum zählbaren Paragrafen und Tabellen (siehe: Sozialgesetzbuch; 50. Auflage, Beck-Texte 2021).
Die wichtigsten Berufsstände in Deutschland sind nicht mehr die Landwirte, Bäcker, Fleischer, Techniker, Bauarbeiter, Bürosachbearbeiter, Kraftfahrer et cetera, sondern die Rechtsanwälte und Steuerfachleute. Im 2021 neu gebildeten Parlament sind sie mit einer Mehrheit von etwa 70 Prozent vertreten. Das bedeutet, dass partikulare Interessen der Machtinhaber den Lebensablauf der Bevölkerung bestimmen.
Was brachte nun die extrem hohe Anzahl der Rechtsnormen in Deutschland, die der einzelne Einwohner unter dem Strich nicht mehr überschauen und werten kann? In kurzen Worten: Viel Bürokratie und Bewahrung der sozialen Spaltung beziehungsweise ihre Vergrößerung.
- Die soziale Ungleichheit ist nicht aufgehoben. Humangesinnte Dimensionen sind in den Arbeitsgesetzen kaum zu erkennen. Die Chefgehälter befinden sich auch im Krisenjahr auf Rekordniveau, titelte die Berliner Zeitung am 17.11.2021, und sie belegte die Aussagen mit vielen Beispielen. Große Konzerne schütten weiter Dividenden aus. Das SPD-geführte Arbeitsministerium der Ampelregierung berauscht sich am geringfügig angehobenen Mindestlohn, lässt aber die Leiharbeit und die Austritte der Unternehmen aus der Tarifgemeinschaft zu. 22 % der Erwerbstätigen in Deutschland müssen mit Hartz IV aufstocken!
- Die Gesetzgebung befördert und toleriert, dass die privaten Kapitalkreisläufe der Konzerne in ihren Wertbildungsketten das staatliche Steuersystem ohne Beachtung des Gemeinwohls einbeziehen.
- Die Spaltung des Landes zwischen einer Oberschicht (upper class) von Kapitaleignern und einer Unterschicht Abhängiger in Wirtschaft, Verwaltungen, Kultur und Wissenschaft sowie mittelständischer Unternehmen und Genossenschaften schreitet voran (2).
- Das Strafrecht verhindert nicht wirksam Steuerflucht, Cum-ex- sowie Cum-Cum-Geschäfte und einen Skandal à la Wirecard. Regelungen, die Qualitätstäuschungen verhindern, sind gleichfalls keine Zierden des deutschen Rechtsstaates (Verbrennungsmotoren, Werbeversprechen, Lebensmittel u. v. m.). Bedenklich ist, dass das Wirtschaftsstrafrecht im Vergleich zu anderen Normenwerken, beispielsweise zum Sozialgesetzbuch, nur 17 Paragrafen zählt (siehe: Strafgesetzbuch, 38. Auflage, Beck-Texte).
- Auffällig vermeiden die Gerichte (im Gegensatz zu US-amerikanischen Gerichten) die Verurteilung großer Konzerne und streben Vergleiche an.
- Trotz Gesetzesbeschränkungen zum Schutz der Natur sterben Tierarten in hohem Tempo aus; das Klima verändert sich negativ weiter. Aber der wesentliche Faktor der Störung der Natur, das ungeprüfte Wachstum, wird mit freier Werbung vorangetrieben.
- Mit Recht und Respekt wird das Jahrhundertverbrechen des Antisemitismus geahndet. Nicht aber die vielfach betriebenen Fremdenfeindlichkeiten, beispielsweise gegenüber den Chinesen, den Russen, den Latinos, die im Verlauf der Geschichte Unrecht erlitten haben. Der deutsche Rechtsstaat besitzt auch hier erhebliche antihumane Lücken.
- Die universellen UN-Rechtsnormen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 und des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte von 1966, nach Ratifizierung 1976 in Kraft getreten, werden von den deutschen Regierungen nachlässig behandelt. Ebenso die Rechte auf Arbeit, auf Leben (stattdessen Krieg als Option, Waffenexport, Patentverweigerung) und auf Selbstbestimmung der Entwicklungsländer (globale 17 Nachhaltigkeitsziele der UNO).
- Die ständig wiederkehrenden Wahlversprechungen, die Bürokratie für den Bürger und die Wirtschaft einzuschränken, wurden in der Vergangenheit nicht erfüllt. Sie scheiterten an unterschiedlichen Interessen und am selbstgeschaffenen Monster der Paragrafen. Im Gegensatz dazu, dass Regelungen für eine Diätenerhöhung nur wenige Tage Parlamentsdebatte in Anspruch nehmen, reicht eine vierjährige Amtsperiode für wichtige Themen wohl nicht aus. Das Ampelparlament hat nun Gelegenheit zu beweisen, dass der versprochene neue Zeitgeist in Berlin angekommen ist.
- Die Wiedervereinigung 1990 führte nicht dazu, dass einige vorteilhaftere Regelungen der DDR für Wirtschaft und Bevölkerung übernommen wurden, beispielsweise die Rechtsansprüche im Wohnrecht, Gesundheitsrecht, Bildungsrecht, Arbeitsrecht und Bauvorbereitungsrecht oder die Planungs- und Bilanzpflichten.
Die quantitative Ausweitung des Rechtssystems führt zwangsläufig in allen gesellschaftlichen Ordnungssystemen zu einer größeren Bürokratie. Es gehört zur ständigen Aufgabe des Parlaments, das System der Normierung rationell zu halten. Der Weg könnte über eine stärkere Interaktion zwischen den Gesetzgebern und den Betroffenen, vor allem aber über einen Vorlauf durch die Rechtswissenschaft geebnet werden.
Der “World Inequality Report” (Berliner Zeitung vom 11.12.21) beschreibt den aktuellen Zustand: Elon Musk erhält für seine Autofabrik in Brandenburg erst einmal 1,1 Milliarde Euro Fördergelder. Gemäß Forbes führt er die Liste der reichsten Menschen der Welt an.
Zum internationalen Tag der Menschenrechte am 10. Dezember machte die Eberhard-Schultz-Stiftung für soziale Menschenrechte und Partizipation in einer Pressemitteilung auf Defizite der deutschen Regierung aufmerksam. Die Umsetzung der universellen Menschenrechte wurden von der GroKo-Regierung verzögert und der Ratifizierungstermin des Zusatzprotokolls nicht eingehalten. Rückstände bestehen auch in der Einhaltung des internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form rassistischer Diskriminierung.
Die deutsche Rechtstradition urteilt hauptsächlich nach den im Gesetzestext geschriebenen Worten. So ist es leicht, bei der unüberschaubaren Fülle der Regeln Anträge auf Rechtsbegehren zur Behandlung vor Gericht aufgrund von “Formfehlern” abzulehnen. Das Enteignungsbegehren von Großkonzernen der Wohnungswirtschaft mit einem Volksentscheid ist damit vom Tisch der Gerechtigkeit, um ein Beispiel zu nennen.
Der Rechtsstaat hat die Macht, etwas vor Gericht zu behandeln oder abzulehnen. Die Macht hat Gesetze unter anderem zum eigenen Erhalt formuliert. Sie bedient sich zunächst selbst und ist unzureichend digital mit den sozialen Bereichen vernetzt. Ergo verkündet eine Bauernweisheit aus Honduras: Es werden zuerst die von Schlangen gebissen, die keine Schuhe haben. Da die Natur in Europa und den USA kein Rechtssubjekt ist, kann das Klima nur mit ihren physikalischen Gesetzmäßigkeiten reagieren, wenn die Folgen des menschlichen Handelns nicht ausreichend bedacht wurden.
Dieser grobe Überblick belegt, dass in Deutschland in wichtigen Lebensbereichen erhebliche Defizite vorhanden sind. Die Ziele der Französischen Revolution von 1789 zur Schaffung von Gleichheit und Brüderlichkeit sind nicht erreicht. Freiheit können nur die genießen, die über Macht und Mittel verfügen.
Erschreckend tief ist die Breitenwirkung der medialen Lobpreisungen des kapitalistischen Rechtsstaates: “Der Bedürftige ist meist selbst schuld”, “Wenn es den Großen gut geht, ist auch der Kleine auf der Gewinner-Seite”, “Schuld haben immer nur die anderen”.
Menschengemeinschaften haben zu jeder Zeit in ihrer Geschichte Gesetzesnormen eingeführt und verändert. Unterschiede bestanden in der Demokratie bei der Fixierung kommender Aufgaben und im System der Entscheidung, was zum Gesetz erhoben wird. Die Politik strebt danach, das Primat in der Machtbalance zu behalten.
Die Statuten des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) der ehemaligen sozialistischen Länder (3) und die Europäische Union sahen und sehen in einem ihrer Verfahrenspunkte gleiche demokratische Prinzipien vor: Beschlussentscheidungen erfolgen nach dem Prinzip “Ein Land gleich eine Stimme”. Das aber steht in der EU unter Kritik der großen Mitgliedsländer. Eines ihrer Argumente: Wir kommen nicht für die Schulden der Griechen, Spanier et cetera auf. Die Interessen der internen gesellschaftlichen Gruppen in den Einzelländern sind zu unterschiedlich. Die Einführung einer qualifizierten Mehrheitsentscheidung in der Europäischen Union steht auf der Tagesordnung (vergl.: Wolfgang Ischinger, Leiter der Münchener Sicherheitskonferenz, FOCUS, 34/2021).
Redaktioneller Hinweis: Der Beitrag “Der fehlerhafte deutsche Rechtsstaat und seine Bürokratie” von Günter Buhlke erschien erstmals bei unserem Kooperationspartner Pressenza und wurde von Neue Debatte übernommen. Einzelne Absätze wurden zur besseren Lesbarkeit im Netz hervorgehoben und Fußnoten ergänzt.
Quellen und Anmerkungen
(1) Jura regalia ist ein mittelalterlicher Rechtsbegriff, der Rechte bezeichnete, die ausschließlich dem König gehörten, entweder als wesentliche Bestandteile seiner Souveränität (jura majora, jura essentialia), wie zum Beispiel die königliche Autorität oder als akzidentelle Rechte (jura minora, jura accidentalia) wie beispielsweise das Jagd-, Fischerei- und Bergrecht. Viele Herrscher im Mittelalter und in späteren Zeiten beanspruchten das Recht, die Einkünfte unbesetzter Bischofssitze oder Abteien zu beschlagnahmen, indem sie sich auf ein königliches Recht beriefen. In einigen Ländern, insbesondere in Frankreich, wo es als droit de régale bekannt war, wurde der Begriff jura regalia fast ausschließlich auf dieses angenommene Recht angewandt. Eine Freiheit war ein Bereich, in dem das königliche Recht nicht galt.
(2) Die Oberschicht (upper class) in modernen (Klassen)Gesellschaften setzt sich aus Menschen zusammen, die den höchsten sozialen Status innehaben, in der Regel die wohlhabendsten Mitglieder der Klassengesellschaft sind und die größte politische Macht ausüben. Diese Oberschicht zeichnet sich im Allgemeinen durch immensen Reichtum aus. Dieser ist nicht Resultat eigener Leistung, sondern wird von Generation zu Generation vererbt. Vor dem 20. Jahrhundert galt die Bezeichnung Oberschicht für die Aristokratie, die den über Generationen vererbten Adelsstatus und nicht nur den jüngsten Reichtum hervorhob.
(3) Der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) war eine internationale Organisation der sozialistischen Staaten unter Führung der Sowjetunion. Der RGW wurde 1949 als sozialistisches Pendant zum Marshallplan und zur Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC) gegründet. Der RGW wurde 1991 infolge des Falles des Eisernen Vorhanges und der damit verbundenen politischen Umwälzungen aufgelöst.

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Günter Buhlke ist Jahrgang 1934 und Dipl. Volkswirtschaftler. Er studierte an der Humboldt Universität und der Hochschule für Ökonomie Berlin. In den 1960er und 70er-Jahren war Buhlke international als Handelsrat in Mexiko und Venezuela tätig und Koordinator für die Wirtschaftsbeziehungen der DDR zu Lateinamerika. Später Vorstand einer Wohnungsgenossenschaft, Referent im Haushaltsausschuss der Volkskammer und des Bundestages und von 1990 bis 1999 Leiter der Berliner Niederlassung des Schweizerischen Instituts für Betriebsökonomie. Günter Buhlke ist verheiratet, lebt in Berlin und engagiert sich ehrenamtlich.