Stellen Sie sich vor, Sie schalten das Radio an, um Nachrichten zu hören. Ihre Gewohnheit sagt Ihnen, dass Sie, unabhängig von jeglicher Bewertung, einen Überblick über das Geschehen erhalten, welches für Sie von einiger Relevanz ist. Lange Zeit hat das auch einigermaßen funktioniert. Es gab zwar schon immer gewisse Muster, die unsinnig wie belanglos sind, aber irgendwo haben die Nachrichtenredakteure wohl gelernt, dass zum Schluss auch immer etwas gemeldet werden muss, das viele nicht betrifft, aber irgendwie emotionalisiert, wie ein Dachstuhlbrand in Hintertupfingen oder ein Busunglück in Bangladesch. Aber ansonsten wussten Sie, wie viel Steuereinnahmen der Staat hatte, welche Produkte den Markt eroberten, welche Präsidenten ihr Land wie positionierten, wie die Konflikte auf dem Globus aussahen und welche Position Ihr eigenes Land einnahm.
In dieser Erwartung schalteten Sie eines Morgens das Radio wieder ein und Sie erhielten exklusiv die Wasserstandsmeldungen aus ihrer Region, aus anderen Ländern und Kontinenten. Sonst nichts.
Beim nächsten Versuch wiederholte es sich. Und immer, wann Sie es in der folgenden Zeit versuchten, Wasserstandsmeldungen über Wasserstandsmeldungen. Immerfort. Und immer im Vergleich zu den Vortagen, mit dem Tenor, dass alles immer gefährlicher werde. Sie versuchten es danach im Fernsehen. Und – Sie konnten es kaum glauben, – dort wurde das gleiche Spiel in Endlosschleifen wiederholt. Wasserstand, Wasserstand, all night long.
Alleine vor dem Wasserstand
Sie begannen zu recherchieren und stießen auf Ereignisse, die Ihnen eminent wichtig erschienen, wie zum Beispiel die Konflikte zwischen Ländern, die hätten eskalieren können, Kriege, die nicht aufhörten, brachialer Raubbau an Bodenschätzen, Hungersnöte, Vulkanausbrüche, Einkommensentwicklungen, Inflation.
Wenn Sie irgendwo, bei der Arbeit oder im Freundeskreis, auf diese Dinge zu sprechen kommen wollten, dann bemerkten Sie, wie sie skeptisch betrachtet wurden. Wie, so sagten Ihnen zumindest die Gesichter, konnten Sie darauf kommen, über Kriegsgefahr oder Handelssanktionen zu schwadronieren, wo doch gerade in den letzten Tagen wieder die Wasserstände gestiegen waren.
Es war ein schleichender, aber dennoch schneller Prozess. Plötzlich gehörten sie nicht mehr dazu. Während sich das Gros Ihres Umfeldes jeden Abend zurückzog, um die neuesten Wasserstände in ihren mentalen Opiumhöhlen zu inhalieren, saßen Sie allein in Ihrer Wohnung und lasen Bücher, in denen vieles vom menschlichen Zusammenleben und von den Vorstellungen einer besseren Welt stand. Sie fühlten sich dabei sehr allein.
Frevler, Irre und Verfassungsfeinde
Der Panikmodus wurde zur neuen Normalität. Sicher, die Wasserstände waren gestiegen. Nur fragte niemand, woran das lag und warum die Deiche, die mit soviel Geld erbaut worden waren, nicht mehr hielten. Die Wellen, die durch maritime Hyperaktivität in immense Höhen schlugen, wurden als Naturereignis begriffen und die Reduktion der Deiche, die aus Kostengründen in den letzten Jahren schleichend vorgenommen worden war, und zwar von Leuten, die sich jetzt als Retter aufspielten, wurden nicht thematisiert. Wasserstand, Wasserstand, all night long.
Sie begannen, sich andere Quellen der Information zu suchen. Aber selbst das sorgte für Unverständnis. Und nicht nur das. Plötzlich sah man Sie in einem anderen Lager, und zwar in einem feindlichen. Sie wurden so langsam verrückt. Denn das Bild von der Gesellschaft, das sie sich bis dahin gemacht hatten, stellte sich als ein Fantasiegebäude heraus. Da stritten nicht freie Geister um den richtigen Weg, nein, da regierten Panik und Unvermögen, und wer dabei nicht mitmachte, der war ein Frevler, ein Irrer oder gar ein Verfassungsfeind.
Da Sie nicht wussten, wie lange dieser Zustand anhalten würde, hörten Sie auf, das Radio einzuschalten. Sie konnten es einfach nicht mehr ertragen. Und zuweilen gingen Ihnen Gedanken durch den Kopf, die hoch gefährlich waren. Wasserstand, Wasserstand, all night long.

Alles beginnt mit dem ersten mutigen Schritt!
Journalismus hat eine Zukunft, wenn er radikal neu gedacht wird: Redaktion und Leserschaft verschmelzen zu einem Block – der vierten Gewalt. Alles andere ist Propaganda.
Foto: SwapnIl Dwivedi (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
4 Antworten auf „Wasserstand, Wasserstand, all night long!“
Schlimmer noch: neben dem eigenen Selbst-Denken fingen sie auch noch an Bücher zu lesen, verfasst von Selbstdenkern.
kommt mir irgendwie sehr bekannt vor, aber sicher liegt das daran, dass ich einfach zuviel radio und tv und medien allgemein ver-konsumiere ? unsere täglichen wasserstandsmeldungen gib uns heute und immerdar, und hindere unsere feinde daran zu fragen warum …
Schön waren auch all die radfahrenden Bären (oder Schimpansen) regelmäßig am Schluss der Kino-Wochenschau … vor der Fernseh-Ära.
Guter Artikel, aber ich frage mich, ob jüngere Menschen mit dem Begriff Wasserstandsmeldung noch etwas anfangen können. Tatsächlich kann ich mich erinnern vor vielen Jahren als Kind meine Eltern danach gefragt zu haben.