Fast möchte man allen raten, die verzweifelt sind und noch unter Kriterien aufwuchsen, die dem christlichen Abendland entsprachen, sich auf die Knie zu werfen und die Hände bittend gen Himmel zu richten. Vielleicht nicht gleich, um Gott um Erlösung zu bitten, sondern den großen Weltgeist anzurufen und zu bitten um Einsicht.
Allzu unübersichtlich sind die Verhältnisse, in denen sich die auf sich gestellten Individuen bewegen müssen. Allzu undurchsichtig ist ihr jeweiliges Treiben. Allzu sinnlos scheint die Welt geworden zu sein.
Wer vermag noch Ursache und Wirkung auseinanderzuhalten? Wem ist es noch gegeben, Gegebenheiten, die im Detail vernünftig erscheinen, in einen größeren Zusammenhang zu stellen und neu zu bewerten? Und nicht zuletzt unter vielem mehr: Wer hat noch die Courage, nach bestem Wissen und Gewissen überhaupt ein Urteil zu fällen?
Der Laden muss laufen
Es scheint so, als wäre das Gesellschaftskonzept, welches mit dem Bürgertum der westlichen Welt in Form kam und das das Individuum, seine Entfaltung und sein Glück als Zentrum der Betrachtung sah, den Schlägen, die die Welt seit der Globalisierung durch Finanz-, Kapital-, Waren- und Geldbewegungen erfuhr, nicht mehr gewachsen. Zumindest die (gezeigte) Fähigkeit, Krisen zu meistern, erweckt den Eindruck eines kollektiven Ertrinkens in einem Meer der Unübersichtlichkeit.
Und so absurd es erscheint: Etwas eifersüchtig schielt der Westen auf die Gesellschaften, die mal als asiatische Despotien, mal als auf dem Kollektivismus (1) basierende Autokratien beschrieben werden, die zum Teil schneller und besser den Schlägen auszuweichen vermögen.
Die Anarchie, die der flächendeckend verbreitete Kapitalismus dem Weltgeschehen präsentiert, erfordert zweierlei: Der Laden muss laufen und der Anspruch muss dabei gelebt werden. Und was machen die gewitzten Regierungen des Westens? Sie kopieren selbstverständlich unter anderem Vorzeichen die dirigistischen, mit Sanktionen durchsetzten Vorgehensweisen eben jener Staaten, um das rettende Ufer, den Machterhalt zu erreichen.
Das konkrete Handeln eben jener Regierungen ist an Absurdität nicht zu steigern. Gemäß der von ihnen wie dem gesamten Staatsgebilde und ihm zugrunde liegenden Dokumenten wäre der logische Schluss, die Individuen wie das Kollektiv zu ermächtigen, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln. Mit diesem Mantra geht man schließlich rund um den Globus, um die Vorzüge des eigenen Staatswesens zu reklamieren.
Die Mutation des Systems
Die Frage, wie es aus der Perspektive kollektivistischer Gesellschaften oder anderer, in der der Freiheitsbegriff ein gänzlich anderer ist, ankommt, wenn bei ernsthaften Erschütterungen die Essenz des eigenen Staatswesens über Bord geworfen und mit Ausnahmegesetzen, Sonderbestimmungen, restriktiven Verhaltensregeln et cetera operiert wird und die vitalen Rechte des Systems außer Kraft gesetzt werden, erschließt sich dem externen Beobachter aus der Distanz nicht.
Insofern ist es zu verstehen, dass der politische Ruf der westlichen Gesellschaften in der letzten Zeit im Weltmaßstab sehr gelitten hat. Das kann man den Menschen in den anderen nicht zu unterschätzenden Winkeln dieser Welt nicht vorwerfen, ganz im Gegenteil, es ist folgerichtig. Denn wie soll ein seiner Sinne mächtiger Beobachter darauf reagieren, wenn ein System, das für sich wirbt, bei der ersten Krise alles, was das System ausmacht, schleunigst im Gully verschwinden lässt?
Es ist zu raten, sich umzuschauen und zu erfahren, wie die Welt auf den systemischen Sinneswandel reagiert. Wenn das fruchtet, böte sich vielleicht die Chance, auch jene mitten unter uns zu verstehen, die diese Mutation des eigenen Systems aus gutem Grunde nicht einsehen wollen. Indem auch sie ignoriert werden, gleich der Perspektive aus anderen Ländern, macht man sie auch zu Außenstehenden. Und auch sie werden den Kopf schütteln und sich enttäuscht abwenden.
Quellen und Anmerkungen
(1) Mit dem Begriff Kollektivismus wird ein System von Werten und Normen verstanden, in dem das Wohlergehen des Kollektivs die höchste Priorität einnimmt. Die Interessen des Individuums werden denen der im Kollektiv organisierten sozialen Gruppe untergeordnet. Der Gegensatz dazu ist der Individualismus. Das Kollektiv kann jede Art von Gemeinschaft sein (Klasse, Volk, Betrieb usw.). Kollektivistische Normensysteme bedürfen eines Gemeinschaftsgefühls, Solidarität oder auch Freundschaft und Liebe (zum Beispiel in familiären oder religiösen Kollektiven wie zum Beispiel Klostergemeinschaften). Auch wird “Kameradschaft“ oder beispielsweise die “Volksgemeinschaft” besonders betont. In den politischen Ideologien Kommunismus, Sozialismus, Nationalismus und Nationalsozialismus ist der Gedanke des Kollektivismus (der sich im Verständnis allerdings massiv unterscheidet) wesentlich. Wird der Einsatz des Einzelnen für das Kollektiv auf Willensentscheidung begründet, wird von Altruismus gesprochen. Diesen beansprucht auch der Kollektivismus für sich. In den kapitalistischen (bis zu marktfundamentalistischen) Systemen westlicher Prägung wird vor allem der Individualismus betont.

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Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.