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Einführung in soziologische Sichten (Teil 5): Nonkonformität

Die Aussage des Soziologen Lewis A. Coser, dass nur ein hinreichend entwickeltes kritisches Potenzial garantiert, dass sich die Soziologie neben den manifesten sozialen Problemen auch den latenten Problemen zuwenden kann und somit der Gefahr entgeht, dass ihre Ergebnisse gesellschaftlich folgenlos bleiben, scheint sich in der Gegenwart negativ zu bestätigen: das kritische Denken verschwimmt im Mainstream. Im 5. Teil seiner Einführung in soziologische Sichten geht Richard Albrecht auf die Bedeutung der Nonkonformität ein.

In seinem Beitrag “Über die Tugenden des Nonkonformismus in der Soziologie” (108) kritisierte ein prominenter US-Soziologe, Lewis A. Coser (1913-2003) Anfang der 1990er-Jahre theoretische Denkformen und praktische Arbeitsweisen akademisch-westlicher Soziologie der zweiten Hälfte des vergangenen “kurzen” Jahrhunderts. Dabei geht es Coser vor allem um den Verfall kritischen und utopischen Denkens in dieser Soziologie einerseits und andererseits um die vor allem in der US-Soziologie unverkennbare Rückentwicklung dystopischer und antihumaner Grundrichtungen in Theorie, Empirie und Forschungspraxis:

“Nur ein hinreichend entwickeltes kritisches Potential garantiert, dass sich die Soziologie neben den manifesten sozialen Problemen auch den latenten Problemen zuwendet und so der Gefahr gesellschaftlicher Folgenlosigkeit ihrer Ergebnisse entgeht.”

Was gelegentlich und auch heute noch in stärkerem Englisch als theoretischer “Bullshit” und in der empirischen Forschungspraxis als “Cheap n’ Dirty” gekennzeichnet wird, wird von Coser moderat(er) als soziologisches “Denken” bezeichnet, das keine “kritischen Impulse” mehr enthält bzw. sich vor allem durchs “Fehlen der kritischen Dimension im aktuellen soziologischen Denken” auszeichnet. Diesem intellektuellen Verfall entsprechen (angeblich akademisch) “hoch qualifizierte Computerspezialisten”.


Robert King Merton 1965. (Foto: Eric Koch; CC0)
Robert King Merton (1910-2003) war ein US-amerikanischer Soziologe und ein Präsident der American Sociological Association. Er prägte unter anderem den Begriff self-fulfilling prophecy (deutsch: selbsterfüllende Prophezeiung) und formulierte Ende der 1930er-Jahre die Anomietheorie. (Foto: Eric Koch; Lizenz: CC0)

Der von Coser kritisierte Utopie- und Kritikverlust geht einher mit Desinteresse und fehlendem Rückbezug auf diesen Namen verdienende soziale Bewegungen, die gegen gesellschaftliche Ungerechtigkeiten kämpfen. Dabei schließt Coser an den Wissenschaftssoziologen Robert King Merton (1910-2003) und dessen Unterscheidung von offenen und verdeckten sozialen Funktionen hinsichtlich “manifester und latenter sozialer Probleme” an und betont abschließend:

“Ohne den Stachel des kritischen Denkens wird [Soziologie] wie auch das gesamte soziale Gewebe in Konformität erstarren.”


Quellen und Anmerkungen

(108) Lewis A. Coser: Über die Tugenden des Nonkonformismus in der Soziologie. In: Berliner Journal für Soziologie. Sonderheft 1991: 9-14; alle Coser-Zitate hiernach.


Ein ruhender Mensch auf einem weißen Bett. (Foto: Ahmet Ali Agir, Unsplash.com)

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Foto: Dasha Yukhymyuk (Unsplash.com) und Eric Koch (Anefo – Nationaal Archief 917-9297, Lizenz: CC0 1.0 Universal (CC0 1.0) Public Domain Dedication)

Habilitierter Gesellschaftswissenschaftler, Dozent und Publizist | Webseite

Richard Albrecht ist habilitierter Gesellschaftswissenschaftler – Dozent – Publizist. Forschungsansatz The Utopian Paradigm (1991). 2010-2022 Autor des Fachmagazins soziologie heute, 2011-2021 des Netzmagazins trend.infopartisan und 2019-2022 des Netzjournals Neue Debatte.

Von Richard Albrecht

Richard Albrecht ist habilitierter Gesellschaftswissenschaftler – Dozent – Publizist. Forschungsansatz The Utopian Paradigm (1991). 2010-2022 Autor des Fachmagazins soziologie heute, 2011-2021 des Netzmagazins trend.infopartisan und 2019-2022 des Netzjournals Neue Debatte.

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