Robert King Merton (1910-2003) war ein wirkmächtiger US-amerikanischer Soziologe (1). Er gilt im deutschen Sprachraum als Klassiker (2). Sein oft nachgedruckter, übersetzter und verbreiteter Leitaufsatz (3) erschien 1936. Merton sprach ein Kernproblem aller handlungsbezogenen Soziologie als unanticipated consequences of purposive social action – unvorhergesehene Handlungsfolgen – an, verdeutlichte verschiedene empirisch beobachtbare Handlungsfolgen, vor allem als Nutzen für ein bestehendes soziales System – als Dysfunktion Konterfunktionales und als Nichtfunktion Nonfunktionales – und diskutierte als indendiert (beabsichtigt) und percipiert (wahrgenommen) zwei Hauptformen von Handlungsfolgen:
- manifeste Funktionen, die zur Anpassung eines sozialen Systems beitragen und von Beteiligten/Akteuren sowohl beabsichtigt als auch wahrgenommen werden und
- latente Funktionen, die von Akteuren weder beabsichtigt noch wahrgenommen, mithin ignoriert werden.
Von Erkenntnisinteresse sind entsprechend des Aufklärungsanspruchs sozialwissenschaftlicher Aufklärung gesellschaftlich “Unsichtbares sichtbar [zu] machen” (Marie Jahoda) vor allem latente, also nicht offen sichtbare, gleichwohl wirksame Funktionen: Was latente Funktionen in ihrer verdeckten Funktionalität mit so unbeabsichtigten wie unerkannten – zugleich paradoxen – Handlungsfolgen unter vorgegebenen institutionellen Bedingungen und ohne grundlegende Veränderungen gegebener Macht- und Herrschaftsverhältnisse bewirken können und empirisch seit den 1980er-Jahren (zunächst in der Alt-BRD) bewirkten, hat Ulrich Beck (1944-2015) am Beispiel von Frauenbewegungen und ihrer “Forderung nach Gleichstellung der Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen” so beschrieben:
“Die Existenzform des Alleinstehenden ist kein abweichender Fall auf dem Weg in die Moderne. Sie ist das Urbild der durchgesetzten Arbeitsmarktgesellschaft. Die Negation sozialer Bindungen, die in der Marktlogik zur Geltung kommt, beginnt in ihrem fortgeschrittensten Stadium auch die Voraussetzungen dauerhafter Zweisamkeit aufzulösen … ein Fall paradoxer Vergesellschaftung. Wer – wie Teile der Frauenbewegung – mit dem besten Recht Traditionen, unter denen die Moderne angetreten ist, weiterverlängert und die marktkonforme Gleichstellung von Mann und Frau einklagt und betreibt, muss auch sehen, dass am Ende dieses Weges aller Wahrscheinlichkeit nach nicht die gleichberechtigte Eintracht steht, sondern die Vereinzelung in gegen- und auseinanderlaufenden Wegen und Lagen.” (4)
In der Neu-BRD wurde 2017 zur Lohngerechtigkeit für Frauen ein großkoalitionäres Bundes-Gesetz zur Förderung der Transparenz von Entgeltstrukturen (5) bei Unternehmen mit mehr als 200 Beschäftigten und persönlichem Auskunftsrecht veranlasst. Dies kann den Stand der Arbeitsmarkt-Individualisierung weiter zuspitzen.

Auch wenn die deutschsprachige akademische Robert-King-Merton-Rezeption behutsam beginnt, Mertons wissenschaftssoziologische specified ignorance zu hinterfragen – die von Robert K. Merton selbst erst später erkannte Unterscheidung von Handlungsfolgen in unanticipated (unvorhergesehen), unintended (unbeabsichtigt) und unrecognized (unerkannt) bleibt weiterhin un(auf)geklärt.
Würde im Sinne fachwissenschaftlicher Wissensarchäologie argumentiert, ginge es bei Merton um den Hauptverantwortlichen scheinbarer Verwissenschaftlichung eines Kernbereichs von Sozialwissenschaft entsprechend seines fiktiven Modells von – wirklich oder vermeintlich exakter – Naturwissenschaft. In diesem erscheint menschliches Leben zum Zwecke seiner Berechenbarkeit auf “Kern und Schale” ebenso geschrumpft wie die Vermittlung von Subjekt und Objekt missachtet wird (6) – wozu eine soziale Welt als System propagiert wird, in der und in dem Sensualität ausgeklammert ist zugunsten von Systemerfordernissen, die “lebende Menschen in ihrer ganzen Subjektivität” (Paul Feyerabend) in “tote Registraturnummern” (Franz Kafka) verwandeln:
Damit verweist Robert K. Mertons Schlüsselwort unanticipated – nicht aber unanticipatable, unforeseeable, unpredictable – nicht nur fachsprachlich-sozialphilosophisch, sondern auch gedanklich-konzeptionell auf eine doppelte Verkürzung von Soziologie auf eine antihistorisch-antihermeneutische Beliebigkeitsveranstaltung.
Quellen und Anmerkungen
(1) Nachruf Erwin K. Scheuch in Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (KZfSS), Vol. 55, 406-409 (2003).
(2) Biografie Robert King Merton. Auf http://agso.uni-graz.at/lexikon/klassiker/merton/33bio.htm (abgerufen am 04.02.2022).
(3) Robert King Merton: The Unanticipated Consequences of Purpositive Social Action; in: American Sociological Review, 1 (1936): S. 894-904.
(4) Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne (Verlag Suhrkamp, Frankfurt am Main 1986, S. 198-200).
(5) Deutscher Bundestag (18. Wahlperiode; 13.2.2017): Gesetzentwurf der Bundesregierung. Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der Transparenz von Entgeltstrukturen; Drucksache 18/11133. Auf https://dserver.bundestag.de/btd/18/111/1811133.pdf (abgerufen am 4.2.2022).
(6) Richard Albrecht (2002; 2007): Korntext. Auf https://ricalb.files.wordpress.com/2009/07/korntext.pdf; ders., Subjektivierung. Die Aktualisierung Goethe’scher sensualer Wissenschaftslehre als Dimension sozialwissenschaftlicher Forschung; in: Aufklärung und Kritik, 21 (2014) I: S. 122-126; verfügbar auf http://www.gkpn.de/Albrecht_ Subjektivierung.pdf (beide Links abgerufen am 4.2.2022).
Redaktioneller Hinweis: Der Beitrag “Denkschranken: Zum Leitkonzept unvorhergesehene Handlungsfolgen” von Richard Albrecht erschien im Fachmagazin soziologie heute (Ausgabe: April 2020). Er wurde aktualisiert und Neue Debatte vom Autor zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt.

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Richard Albrecht ist habilitierter Gesellschaftswissenschaftler – Dozent – Publizist. Forschungsansatz The Utopian Paradigm (1991). 2010-2022 Autor des Fachmagazins soziologie heute, 2011-2021 des Netzmagazins trend.infopartisan und 2019-2022 des Netzjournals Neue Debatte.