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Aufforderung: “Alles, was vernünftig ist, muss sein.”

Propaganda verdient keine Energie, die auch für eine konstruktive Entwicklung genutzt werden kann. Das, was dort als Torso einer komplett unseligen Periode existiert, wird nicht lange überleben, wenn erst einmal deutlich wird, was vernünftig wäre und zu sein hat.

Irgendwie geht mir der Streit um das sogenannte Schulgeheimnis der Hegel’schen Philosophie nicht aus dem Sinn. Hegel, der lange als der Staatsphilosoph Preußens galt, war dorthin mit dem viel zitierten Satz gekommen: “Alles, was ist, ist vernünftig.” (1) Das wurde als die Begründung und Legitimation der bestehenden Verhältnisse gesehen und löste bei allen, die sich nach einem epochalen Aufbruch in das Zeitalter der aufgeklärten bürgerlichen Gesellschaft sehnten, große Enttäuschung aus.

Was vernünftig ist, muss sein

Was allerdings nicht in den offiziellen Journalen stand, aber in den Notizen von Hegels Berliner Studenten, die seine Vorlesungen besuchten, war der darauf logisch folgen müssende Satz: “Alles, was vernünftig ist, muss sein.” Das war die Aufforderung zum konkreten, gesellschaftlichen und politischen Handeln. Und es war so gefährlich, dass es nicht in den offiziellen Protokollen stand.

Man verzeihe den Gedankensprung ins schmutzige Heute, aber bei der Betrachtung dessen, was sich im Gros die “freie Presse” nennt, so scheint sich dort nur der erste Satz der Hegel’schen Maximen durchgesetzt zu haben: Alles, was ist, ist vernünftig. Egal, um was es sich handelt, ob Corona-Politik oder die Außen- oder besser gesagt Kriegspolitik, nicht das, was gemacht wird, wird aus der Perspektive des gesellschaftlich Vernünftigen einem kritischen Blick unterzogen, sondern alles, was ist, ist die Verkörperung und Materialisierung des höchst Möglichen und Wünschenswerten.

Es ist nicht so, dass man der Branche lediglich vorwerfen könne, sie propagiere den Status quo, nein, darüber hinaus beteiligt sie sich noch an der Diskreditierung aller, die sich um einen Weg bemühen, der dazu führen würde, das Vernünftige, das zu sein hat, zu finden.

Das Schauspiel im Osten

Aber genug der Schelte, es ist vertane Zeit. Propaganda verdient keine Energie, die auch für eine konstruktive Entwicklung genutzt werden kann. Das, was dort als Torso einer komplett unseligen Periode existiert, wird nicht lange überleben, wenn erst einmal deutlich wird, was vernünftig wäre und zu sein hat.

Nehmen wir die momentane Situation, oder sollte man sagen das Schauspiel, das sich abspielt rund um den Konflikt an der ukrainischen Grenze. Und bleiben wir bei dem Streit um die Hegel’sche Philosophie. Ist das, was sich dort abspielt, vernünftig? Oder wäre es an der Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, was vernünftig wäre, um die Situation zu befrieden? Der Gedanke kommt weder den handelnden Politikern noch den darüber berichtenden Journalisten. Sie propagieren eine Vernunft, deren Adjektive Eskalation und Vernichtung sind.

Sind wir tatsächlich in einem Stadium der Menschheitsgeschichte angekommen, in der die Vernunft die konkrete Form der Vernichtung angenommen hat? Und leben wir in Zeiten, in denen niemand mehr merkt, zu was die ganze Überhöhung der eigenen Position, die Apologetik und die moralisierende Rechthaberei geführt haben? Sind Kriege und Sanktionen tatsächlich die Ultima Ratio eines Zeitalters, das mit der Vernunft als Wahrheitsprinzip begann?

Ums nackte Überleben

Man muss sich dieser Tendenz nicht widersetzen. Man kann so weiterleben bis zu dem Crash, bei dem es nicht nur die fernen Völker trifft, auf deren Kosten man sein Dasein fristet, sondern auch die eigenen Belange kräftig durcheinanderbringen wird. Aber man kann auch anders. Man kann Vorschläge machen, wie man zurück zur Vernunft kommt, wie man Konflikte entschärft, anstatt sie zu befeuern. Wer das nicht kann, dem kann und sollte man nicht mehr helfen.

Es geht zunehmend ums nackte Überleben derer, die sich noch nicht im Zerstörungswahn irregesoffen haben, sondern an einem Zusammenleben auf diesem Planeten interessiert sind, das sich an der Vernunft orientiert. “Alles, was vernünftig ist, muss sein.” Seien Sie sich dessen sicher!


Quellen und Anmerkungen

(1) Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 bis 1831) war Philosoph und wohl der wichtigste Vertreter des deutschen Idealismus. Seine Philosophie erhebt den Anspruch, die gesamte Wirklichkeit in der Vielfalt ihrer Erscheinungsformen (einschließlich ihrer geschichtlichen Entwicklung) zusammenhängend, systematisch und definitiv zu deuten. Sein Ausspruch “Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.” ist auch in der Kurzform “Alles, was ist, ist vernünftig.” gebräuchlich. Weiterführende Informationen auf https://hegel-system.de/de/va1wirklich.htm (abgerufen am 5.2.2022). In dem Essay “Geständnisse” (verfasst 1854) schreibt der Dichter Heinrich Heine (1797 bis 1856) im Zusammenhang mit Hegel und dem Schulgeheimnis: “(…) Ja, was die deutsche Philosophie betrifft, so hatte ich unumwunden das Schulgeheimnis ausgeplaudert, das, eingewickelt in scholastische Formeln, nur den Eingeweihten der ersten Klasse bekannt war.” Mehr auf http://www.heinrich-heine.net/gestd.htm (Link abgerufen am 5.2.2022).


Ein ruhender Mensch auf einem weißen Bett. (Foto: Ahmet Ali Agir, Unsplash.com)

Alles beginnt mit dem ersten mutigen Schritt!

Journalismus hat eine Zukunft, wenn er radikal neu gedacht wird: Redaktion und Leserschaft verschmelzen zu einem Block – der vierten Gewalt. Alles andere ist Propaganda.


Foto: Mark Rabe (Unsplash.com)

Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Eine Antwort auf „Aufforderung: “Alles, was vernünftig ist, muss sein.”“

Karl Marx gab der Notwendigkeit, also ständigen gemeinsamen Suchens nach Wegen in eine zwar notwendigerweise, niemals aber konfliktfreie und dennoch im friedlichen Konsens gestaltbare Zukunft der Menschheit, in seiner „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ Ausdruck:

„Der Mensch, der in der phantastischen Wirklichkeit des Himmels, wo er einen Übermenschen suchte, nur den Widerschein seiner selbst gefunden hat, wird nicht mehr geneigt sein, nur den Schein seiner selbst, nur den Unmenschen zu finden, wo er seine wahre Wirklichkeit sucht und suchen muss.“ Das Fundament der irreligiösen Kritik sei: „Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen.“ Und zwar sei die Religion das Selbstbewusstsein und das Selbstgefühl des Menschen, „der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren“ habe. Aber der Mensch, sei „kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen“. Der Mensch, das sei die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. „Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewusstsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Point-d’honneur, ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund.“ Sie sei die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitze. Der Kampf gegen die Religion „ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist. Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen dieses Elend.“ Die Religion sei „der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer wertlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände“ sei. Sie sei das Opium des Volkes.
Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glückes des Volkes sei die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, sei die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusion bedarf. Die Kritik der Religion sei also „im Keim die Kritik des Jammertals dessen Heiligenschein die Religion ist“. Die Kritik habe „die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die Phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche“.
Die Kritik der Religion enttäusche den Menschen, damit er denke, handle, seine Wirklichkeit gestalte wie ein enttäuschter, zu Verstand gekommener Mensch, damit er sich um sich selbst und damit um seine wirkliche Sonne bewege. „Die Religion ist nur die illusorische Sonne, die sich um den Menschen bewegt, solange er sich nicht um sich selbst bewegt.“ Es sei also die Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden sei, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren. Es sei zunächst die Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte stehe „nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist, die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven. Die Kritik des Himmels wandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik.“(Marx/Engels – Ausgewählte Schriften Dietz Verlag Berlin 1970)

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