Fiktionen: (…) “bewußt widerspruchsvolle oder falsche Annahmen, um schwierige oder unlösbar scheinende Probleme oder Situationen zu bewältigen.” – Georg Klaus
Hier geht es nicht nur um eine besondere Lachtheorie, sondern auch im Ausblick nach der im politischen Kurzpoem (1)
“UTOPIE – Deutschland schweijkt”
angesprochenen besonderen sozialen Situation, um eine – scheinbar utopische – praktische Konsequenz des Lachens und seiner Möglichkeiten.
Ausgangspunkt der Lachtheorie des russischen Literaturwissenschaftlers und Kunsttheoretikers Michail Bachtin (1895 bis 1975) ist der mittelalterliche Karneval als besondere, zeitlich begrenzte soziale Situation, in der – ähnlich wie im antiken Satyrspiel – sich die Lachkultur des Volkes als befreiende, subversiv-herrschaftskritische Entäußerungsform mit ihren utopischen Elementen bei denen “da unten” entfalten kann.

Für Bachtin gilt die Zeit des Karnevals als Zeit zum Lachen des Volkes. Das “nicht nur das Moment des Sieges über die Furcht vor den Schrecken des Jenseits, vor dem Geheiligten, vor dem Tod in sich einschließt, sondern auch das Moment des Sieges über jede Gewalt, über die irdischen Herrscher, über die Mächtigen der Erde, über alles, was knechtet und begrenzt.”
Es ist diese ideelle Befreiung von jedweder Obrigkeit, ihren Mächten und Zwängen als mental rebellion, die George Orwell als Sprengkraft jedem populär wirksamen Witz zuschrieb.
Unmittelbar nach Erscheinen der deutschsprachigen Ausgabe von Literatur und Karneval vor inzwischen fünfzig Jahren hat der Literaturkritiker François Bondy Bachtins “Hauptinteresse” gekennzeichnet als “jene literarische Tradition, die er die ‘karnevalistische’ nennt und die jeweils mit dem ‘Untergrund’ einer nicht offiziellen Kultur, mit einer spielerischen und rebellischen Volkstradition zu tun hat, die alle anerkannten Ränge und Werte verkehrt und verspottet. Das Eindringen dieses stets vorhandenen, oft überdeckten ‘Untergrundes’ in die ‘Hochliteratur’ kann von der Antike bis in die Gegenwart […] immer wieder beobachtet werden – eine befruchtende Schlammflut. Bisher verpönte Themen und Ausdrucksmöglichkeiten werden literaturfähig.”
Es ist die karnevalistische Umkehrung aller respektierten Ordnungen, die Bondy so sehr faszinierte. An diese erinnerte auch der Siegener Literaturhistoriker und Dadaforscher Karl Riha in seinem Vortrag über Möglichkeiten und Grenzen des Karnevals als “Ausnahmesituation”.
Dabei arbeitete Riha, der die seit Jahrzehnten unverkennbaren kommerziell-mediengesellschaftlichen Einvernahmen des Karnevals kritisierte (und die kleinkünstlerische Form des Kabaretts für ihr alltägliches Funktionsäquivalent hielt), den Doppelcharakter allen karnevalistisch-närrischen Treibens heraus: einmal, veranschaulicht in der deutschen Geschichte 1848/49, vorwegnehmend um den Zusammenhang von Karneval und Revolution, Narrenfreiheit und politischer Freiheit; zum anderen rückschauend aufs Scheitern oder Ausbleiben sozialrevolutionärer Prozesse mit dem Verbleib “schauspielernder Masken” und ihrer “attackierten Gegner” im wechselseitigen Beieinander dialektischer Verschränkung.

Der US-amerikanische Autor Ralph Ellison (1914 bis 1994) beschrieb in seinem Roman Invisible Man (1952) nicht nur als Schwarzer Ohmachtserfahrungen in der weiß dominierten US-Gesellschaft in verschiedenen Formen und auf verschiedenen Ebenen, sondern erinnerte auch an die wirkmächtigen Potenzen des Lachens:
“Was gäbe es denn sonst noch, wenn nicht das Lachen, um unseren Willen auszuharren, zu stärken? Und könnte es sein, daß in solchem Lachen ein subtiler Triumph verborgen war […]? Eine geheime, mühsam erworbene Weisheit, die möglicherweise eine effektivere Strategie anbot, über die ein sich abmühender afroamerikanischer Schriftsteller seine Vision vermitteln könnte?” (2)
Quellen und Anmerkungen
(1) Richard Albrecht: UTOPIE; in: liberal, 43 (2001) 4: 73.
(2) Nachwort der deutschsprachigen Ausgabe 1981 nach: Der unsichtbare Mann (Rowohlt 1987: 599)
Literatur
Richard Albrecht: … fremd und doch vertraut. Zur politischen Kultur des Witzes gestern und heute (Münster 1989).
Ders., Dada, Dadaismus, Hans Arp: Kunst als Event – Show – Performance; soziologie heute, 4 (2011) 18: 28-32.
Ders., Macht machtet. Ohnmacht nicht; in: soziologie heute, 6 (2013) 31: 20-23.
Michail Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Dt. und Nachwort Alexander Kaempfe (München 1969).
Ders., Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Dt. Gabriele Leupold. Hg. und Vorwort Renate Lachmann (Frankfurt/Main 1995).
François Bondy: Das Gelächter von unten; in: Die Zeit 48/1969.
Lucien Goldmann: Kultur in der Mediengesellschaft. Dt. Linde Birk (Frankfurt/Main 1973).
Georg Klaus: Die Macht des Wortes (Berlin 1964).
George Orwell: The Art of Donald McGill [1941]; in ders., Collected Essay III (London 1968: 155-165).
Karl Riha: Karneval und Maske. Ein Vortrag (Siegen 1992).
Redaktioneller Hinweis: Das Essay “Gelächter von unten” von Richard Albrecht erschien in soziologie heute (Ausgabe Februar 2020). Es wurde aktualisiert und auf neue Debatte erneut veröffentlicht.

Alles beginnt mit dem ersten mutigen Schritt!
Journalismus hat eine Zukunft, wenn er radikal neu gedacht wird: Redaktion und Leserschaft verschmelzen zu einem Block – der vierten Gewalt. Alles andere ist Propaganda.
Foto: Steve Pancrate (Unsplash.com), Wikipedia (Aufnahme von Michail Bachtin; gemeinfrei) und Stephen Winick (Aufnahme von Ralph Ellison 1961; gemeinfrei)
Richard Albrecht ist habilitierter Gesellschaftswissenschaftler – Dozent – Publizist. Forschungsansatz The Utopian Paradigm (1991). 2010-2022 Autor des Fachmagazins soziologie heute, 2011-2021 des Netzmagazins trend.infopartisan und 2019-2022 des Netzjournals Neue Debatte.