Wenn kollektiv der Verstand aussetzt, hat der Mob bereits die Macht übernommen. Dabei handelt es sich nicht um diejenigen, die mal als Prekariat und mal als die Bedauernswerten bezeichnet werden, sondern die Spezies, die saturiert in den richtig temperierten Räumen sitzt und sich an dem großen Spiel um Macht und Einfluss beteiligt.
Da waren Kriege immer schon ein probates Mittel, waren sie nur weit genug entfernt und betrafen sie Länder, die seit Jahrhunderten an dem Kolonialismus europäischer und dem Imperialismus US-amerikanischer Prägung litten. Sie zu bekriegen und zu unterjochen gehörte zur Staatsräson und wurde mit der eigenen zivilisatorischen Kraft begründet.
Mal war es die Religion, mal die Bildung und heute sind es die demokratischen Werte, die, betrachtet man die Kriege der letzten dreißig Jahre, nie von den Ländern, die von ihren Herrschern durch Krieg befreit wurden, genossen werden konnten. Dort herrschten danach Chaos und Bürgerkrieg. Das Narrativ des Neokolonialismus ist faul (1). Aber es fruchtet.
Das Diabolische dabei ist die scheinbar nicht mehr aufzuhaltende Selbstzerstörung. Die Kampfansage an den Rest der Welt scheut nicht davor zurück, sich mit windigen und terroristischen Machthabern zu verbünden, um die eigenen Grenzen immer weiter in Sphären auszudehnen, wo der eigene Geist nicht geatmet wird.
Das große Scheitern der USA, das sie zu für die Weltgemeinschaft gefährlichen Manövern treibt, liegt in einem Irrglauben begründet, der nicht nur von der eigenen Überlegenheit ausgeht. Der große Denkfehler der USA liegt in der Annahme, dass, wenn man die Herrscher anderer Kulturkreise nur eliminiert, die jeweiligen Bevölkerungen nichts sehnlicher wünschen als den American Way of Life.
Da sich diese These jedoch empirisch nicht belegen lässt und die Nachkriegsordnungen, die durch die gewaltsamen Aktionen entstanden sind, alles hervorgebracht haben, nur keine westliche Demokratie, stellt sich die Frage nach der Richtigkeit der These. Nur stößt niemand auf diese Frage, zumindest nicht im offiziellen und öffentlichen Diskurs.
Diese Frage wäre allerdings das Portal, das den Weg zu einer möglichen und nachhaltigen Friedensordnung öffnen könnte. Dass sie bewusst nicht gestellt wird, hat mit den Interessen zu tun, die sich hinter der Erzählung von der demokratischen Mission verbergen. Immer – in jeden Konflikt – geht es um Ressourcen, um Workforce (3) und um Geostrategie. Das ist auch jetzt so und die Hitze der Debatte ist lediglich durch die geografische Nähe begründet.
Wenn jetzt von den Claqueuren der ständigen Expansion von einer Zeitenwende gesprochen wird, ist das eine grenzenlose Übertreibung, denn das einzige, was sich geändert hat, ist die eigene Bodentemperatur, sprich: Es wird heißer. Und aufgrund einer möglichen direkten Konfrontation von NATO und in diesem Fall Russland ist die Option eines globalen Desasters gewaltig näher gerückt.
In einer solchen Situation sind Verstand und ein kühler Kopf die einzigen Garantien gegen eine tödliche Eskalation. Und was geschieht? Die Hitzköpfe, der radikalisierte und hysterische Mob, der im Krieg die einzige noch mögliche Option sieht, übernimmt unwidersprochen die Mikrofone und kreischt seine Parolen. Und diejenigen, die versuchen, den berühmten kühlen Kopf zu bemühen, sollen aus dem Feld getrieben werden. Und viele, denen es möglich wäre, für die Stimme der Vernunft zu plädieren, weichen zurück und heulen mit den Wölfen in der vagen Hoffnung, als Hunde überleben zu dürfen.
Quellen und Anmerkungen
(1) Neokolonialismus ist eine Bezeichnung für das Verhältnis zwischen den Staaten und Konzernen der Industrienationen auf der einen Seite und Ländern des Globalen Südens auf der anderen nach Auflösung der Kolonialreiche im 20. Jahrhundert. Umfasst sind neue Zustände von Abhängigkeit, Ausbeutung und Unterdrückung. Regierungen und Unternehmen der reichen Industriestaaten – vor allem der USA, der Europäischen Union und auch China – trachten danach, sich die Kontrolle über die Ressourcen, Finanz- und Warenmärkte der ärmeren Länder im Globalen Süden zu sichern. Ein Mittel zur Durchsetzung neuer Abhängigkeiten ist zum Beispiel in den Entscheidungen über die Vergabe beziehungsweise Nicht-Vergabe von Krediten oder die Gewährung von Schuldennachlässen zu erkennen, wobei Organisationsstrukturen wie IWF (Internationale Währungsfond), Weltbank und WTO (Welthandelsorganisation) eine besondere Rolle spielen. Sie zwingen die Länder dazu, Maßnahmen zu ergreifen, die vor allem den Interessen der reichen Staaten dienen, wodurch die eigene Entwicklung behindert oder sogar unmöglich wird.
(2) Der American Way of Life beschreibt einen insbesondere für die USA typischen Lebensstil, der auf der Idee fußt, dass jeder Mensch – unabhängig von seiner Herkunft – seinen Lebensstandard durch harte Arbeit, Begabung und Entschlossenheit entscheidend verbessern könne.
(3) Der Begriff “Workforce” meint die Gesamtzahl der Menschen in einem Land oder einer Region, die (körperlich) in der Lage sind, eine Arbeit zu verrichten und für die Arbeit zur Verfügung stehen.

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Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.