Wo sie Bücher verbrennen, verbrennt man später auch Menschen. Dieses Zitat Heinrich Heines, dessen Werke in seinem Heimatland unzählige Male zensiert und verboten wurden, belegt wie in vielen anderen Fällen auch ein sehr feines Gespür für das kommende Unheil. Sein Zitat (1) sollte in Anbetracht der täglichen Angriffe auf die Meinungsfreiheit noch erweitert werden. Denn da, so müsste es lauten, wo man Bücher verbannt, werden sie auch später brennen.
Es passt zu der totalitären wie dummen Auffassung, dass ein aktueller Krieg im Jahr 2022 zur Folge haben sollte, die gesamte Kulturgeschichte einer Partei aus der Rezeption unserer Gesellschaft zu verbannen.
Ein Beispiel nicht nur für die Qualität, sondern auch die Weitsicht und tiefe Erkenntnis von Literatur sind die Werke Alexander Puschkins.
Um die Dimension dessen zu erfassen, was an epischer Kunst, an Humor, Ironie wie Tiefblick durch Puschkins Werke bis heute vermittelt werden kann, müssen nicht die Hauptwerke “Jewgeni Onegin” oder “Boris Godunow” gelesen werden.
Die Erzählungen von Alexander Puschkin
In Puschkins Erzählungen breitet sich das ganze Panorama der russischen Gesellschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus. Da ist ein Imperium, das sich aus militärischer Macht und einem tief in der Bevölkerung verankerten Patriotismus speist. Durch die vermeintliche Sicherheit, die aus der militärischen Macht resultiert, entstand eine zunehmend mit sich selbst, das heißt mit Ausschweifungen und Glücksspiel beschäftigte Offizierskaste, die immer wieder von Aufständen ländlicher Rebellen überrascht wurde. Das so gnadenlose wie scheinbar unerschütterliche Zarenreich war fragiler, als es den Anschein hatte.
Zudem wusste Puschkin um die Gefühlslage des Volkes. In einer Schlüsselszene der Erzählung “Roslawlew” zum Beispiel schildert er die Rührung und Begeisterung, als im Jahr 1812 bekannt wurde, dass, als Napoleon mit seiner Armee vor den Toren Moskaus stand, die Russen selber das Feuer zur Vernichtung der Stadt gelegt hatten, dadurch Napoleon mangels Versorgung zum Rückzug zu Beginn des Winters zwangen und ihn so letztendlich besiegten.
Viele Russen sahen durch diese Tat die Ehre des Landes gerettet. Und an einer anderen Stelle, in dem Roman “Die Hauptmannstochter”, wird darüber sinniert, dass Revolutionen in Russland zum Scheitern verurteilt sind, da die Revolutionäre entweder zu jung seien, um den Charakter des Volkes zu erkennen, oder so unmenschlich, dass sie das Leben anderer nicht wie das eigene achteten.
Frisch geschnittene Blumen
Der Reichtum von Puschkins Erzählungen entspringt einer großen Erzählkunst, die in unseren Tagen ihresgleichen sucht und einer tiefen Kenntnis der Befindlichkeit der herrschenden wie beherrschten Klassen.
Die Erzählungen Puschkins sind eine Lehrstunde für alle, die sich für Russland interessieren und begreifen wollen, welche gedanklichen wie emotionalen Züge seit Hunderten von Jahren dort sichtbar sind. Schnell auf den Punkt gebracht ist da gar nichts. Nicht in Russland. Da denkt man in anderen Dimensionen, was einer langen Geschichte wie der Größe des Landes geschuldet ist.
Alexander Puschkin selbst starb wie ein Russe seiner Zeit. 37-jährig erlag er seinen Verletzungen zwei Tage nach einem Duell. An einem Denkmal für ihn in Moskau liegen bis zum heutigen Tag jeden Morgen unzählige frisch geschnittene Blumen. Auch das ist ein Hinweis aus der Interpretationshilfe.
Informationen zum Buch
Erzählungen
Alle Erzählungen des russischen Dichters sowie abgeschlossene Fragmente
Autor: Alexander Puschkin
Genre: Prosa
Sprache: Deutsch
Seiten: 464
Erscheinung: 1997 (7.7.2021, 22. Auflage)
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
ISBN: 978-3-423-12459-1
Über den Autor: Alexander Puschkin (1799 bis 1837) wird als Begründer der modernen russischen Literatur angesehen. Er leitete in Russland die Wende von der Romantik zum Realismus ein und ebnete der Verwendung der Umgangssprache in seinen Gedichten, Dramen und Erzählungen den Weg. Puschkin schuf einen erzählerischen Stil, der Drama, Romantik und Satire mischte und beeinflusste damit auch zahlreiche russische Dichter.
Quellen und Anmerkungen
(1) Das Zitat “Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.” stammt aus Heinrich Heines (1797 bis 1856) Tragödie ‘Almansor’ (1823 erschienen). Thematisiert wird in der Tragödie eine Verbrennung des Korans nach der Eroberung des spanischen Granada durch christliche Ritter.

Schluss mit dem
Theater …
Karten auf den Tisch!
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Foto und Video: Andrei Slobtsov (Unsplash.com) und Gerhard Mersmann
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.