“Die Welt neu denken lernen” – Was ist damit gemeint, geht das überhaupt und wenn ja, wie? Bei “Reiner Wein“, dem politischen Podcast aus Wien, gibt der Friedensforscher Prof. Dr. Werner Wintersteiner Antworten.
Der ehemalige Leiter des Zentrums für Friedensforschung und Friedensbildung an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, der 2021 sein Sachbuch “Die Welt neu denken lernen – Plädoyer für eine planetare Politik Lehren aus Corona und anderen existentiellen Krisen” veröffentlichte, hofft, dass die Gesellschaft aus der aktuellen krisenhaften Situation mit ihren zahlreichen Bedrohungen für die Zukunft lernen wird. Er sagt, dass es jedem bewusst werden muss, dass die Menschen nur diese eine Erde haben, auf der sie gemeinsam leben.
Frieden oder Gewalt
Ob die Gewalt zwischen Menschen und Nationen tatsächlich über die Jahrhunderte abnimmt, ist eine in der Forschung umstrittene Frage. Einige wissenschaftliche Positionen gehen davon aus, dass sich Gewalt heute lediglich anders ausdrückt und raffinierter agiert als in der Vergangenheit.
Wintersteiner vertritt die Auffassung, dass die Erkenntnisse der Friedensforschung auch dazu beitrugen, dass gewaltfreies Handeln beziehungsweise die Vermeidung von Gewalt auf allen Ebenen Einzug in die Gesellschaft gefunden hat. Als Beispiele führt er die gewaltfreie Entmachtung von Slobodan Milošević (1) in Serbien an und den Wandel in Ägypten durch den Arabischen Frühling. Auch sei der Begriff “Human Security”, der vor allem in UNO-Programmen Anwendung findet, ein Anzeichen für diese Veränderung.
Andererseits wird durch die Ukrainekrise deutlich, dass die Lehren aus dem Kalten Krieg – Abrüstung, kollektive Sicherheit et cetera – verloren gegangen sind und Gewalt zwischen Nationen wieder wahrscheinlicher wird.
Die Welt neu denken lernen
Reiner Wein, der politische Podcast aus Wien. Gast: Werner Wintersteiner
Außerdem würden Menschen in Machtpositionen häufig einer Verengung ihres Horizonts und ihres Denkens unterliegen, wie Barbara Tuchman schon 1984 im Buch “Die Torheit der Regierenden” (Anm.: Original “The March of Folly”) anhand zahlreicher historischer Beispiele aufzeigte (2). So habe beispielsweise US-Präsident Dwight D. Eisenhower (3) seine Ideen zum Militärisch-Industriellen-Komplex erst erarbeitet, als er nicht mehr Präsident der Vereinigten Staaten war.
Der moderne Kapitalismus mit seinem Imperativ der Profitmaximierung prägt die Politik praktisch aller Staaten. Darüber hinaus haben aber auch weitere Paradigmen großen Einfluss auf unser Leben wie beispielweise die Ausbeutung der Natur durch den Menschen, die schon in der Bibel als legitim definiert wurde, aber auch die Ausbeutung der Rohstoffe. Beides sei älter als der Kapitalismus und würde mit Beendigung desselben nicht einfach verschwinden.
Die Welt neu denken
Um diese Fehlentwicklungen abzustellen, müssen wir die Welt neu denken, so Wintersteiner. Die Menschen müssen sich bewusst werden, dass sie nur einen geringen Teil der Biomasse der Erde ausmachen – und auch, dass die Verdrängung der Wildtiere aus ihren Lebensbereichen zu Erscheinungen wie dem Corona-Virus führen kann.
Es sei zwar richtig, dass man bestimmte Bereiche des Klimawandels und der Umweltzerstörung über technologische Entwicklungen (Verkehrswende usw.) lösen könne, dies wird jedoch nicht ausreichen, wie Wintersteiner glaubt. Er geht davon aus, dass vor allem die Menschen in den Industrienationen ihren Lebensstil verändern müssen, wenn die Menschheit auf diesem Planeten überleben will.
Der notwendige Umbau der Wirtschaft und wie dieser aussehen könnte, die Wichtigkeit von Bewegungen wie “Fridays For Future” und anderen Umweltkampagnen, wie man Millionen Menschen ohne große Belastung für das Klima aus der absoluten Armut führen kann und warum Gewalt laut Wintersteiner immer der falsche Weg ist, um seine Ziele zu erreichen, sind weitere Themen dieses Gesprächs.

Über den Gast: Prof. Dr. Werner Wintersteiner (Jahrgang 1951) ist Gründer des “Zentrums für Friedensforschung und Friedensbildung” an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Er war im Leitungsteam des Master-Lehrgangs “Global Citizenship Education” tätig. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen der kulturwissenschaftlichen Friedensforschung, der Friedenspädagogik, der Global Citizenship Education (Bildung zur Weltbürgerschaft) sowie der Erinnerungspolitik mit Schwerpunkt auf die Alpen-Adria-Region. Er veröffentlichte zahlreiche Beiträge und Abhandlungen zum Thema “Friedensforschung”. 2021 veröffentlichte er sein Sachbuch “Die Welt neu denken lernen – Plädoyer für eine planetare Politik Lehren aus Corona und anderen existentiellen Krisen”. Das Buch ist als PDF auf www.academia.edu und www.transcript-verlag.de verfügbar.
Quellen und Anmerkungen
(1) Slobodan Milošević (1941 bis 2006) war ein kommunistischer und später sozialistischer jugoslawischer und serbischer Politiker. Innerhalb verschiedener politischer Funktionen galt er von 1987 bis 2000 als die bestimmende politische Führungsfigur Serbiens und später der Bundesrepublik Jugoslawien. Im Zusammenhang mit dem Kosovokrieg wurde er 1999 als erstes Staatsoberhaupt noch während seiner Amtsausübung von einem Kriegsverbrechertribunal wegen Völkermordes angeklagt. Die Anklage wurde später auch auf die Jugoslawienkriege 1991–1995 ausgedehnt. Nachdem Milošević am 5. Oktober 2000 aufgrund von Massendemonstrationen als jugoslawischer Staatspräsident zurückgetreten war, wurde er 2001 verhaftet und an das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag ausgeliefert. Der Prozess begann im Jahr 2002. Milošević starb aber vor dem Abschluss des Verfahrens, so dass es zu keinem Urteil kam.
(2) Barbara Wertheim Tuchman (1912 bis 1989) war eine US-amerikanische Reporterin und Historikerin. Zu ihren bekanntesten Büchern zählen The Guns of August (1962), The Proud Tower: A Portrait of the World Before the War 1890–1914 (1966) und Stilwell and the American Experience in China, 1911–1945 (1970). Ihr Buch “The March of Folly: From Troy to Vietnam – A meditation on unwisdom (as distinct from stupidity) as a force in history” erschien 1984 und wurde in Deutschland unter dem Titel “Die Torheit der Regierenden. Von Troja bis Vietnam” publiziert.
(3) Dwight D. Eisenhower (1890 bis 1969) war ein US-amerikanischer General und späterer Politiker der Republikanischen Partei. Während des Zweiten Weltkriegs war Eisenhower Supreme Commander der Supreme Headquarters, Allied Expeditionary Force in Europa. Nach Ende des Krieges war er von 1953 bis 1961 der 34. Präsident der Vereinigten Staaten.
Fotos, Audio und Video: Annie Spratt (Unsplash.com), Sender.fm, Idealism Prevails und Reiner Wein
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Eine Antwort auf „Werner Wintersteiner: Die Welt neu denken lernen“
Der behauste Mensch baut sich sein eigenes Heim, wirkt in seiner Heimat für das Land seiner Eltern und Kinder und bemüht sich, die von ihm als objektive Realität erkannte Wirklichkeit zu begreifen, sie zu bewahren und dabei Befriedigung zu finden.
Der ehemalige Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland Helmut Schmidt spricht in seinem Buch DIE MÄCHTE DER ZUKUNFT von der „globalen Dominanz des amerikanischen Kapitalismus“. Dieser komme als Begriff in den drei Grunddokumenten der USA – der Unabhängigkeitserklärung, der „Bill of Rights“ und der Verfassung – nicht vor. Dagegen habe dieses Wort für die Mehrheit der Amerikaner, die kaum je von Marktwirtschaft, aber fast ausschließlich von Kapitalismus gesprochen hätten, keinerlei negativen Beigeschmack. Als Marx und Engels den Begriff Mitte des 19. Jahrhunderts definierten und seine Popularität in die Wege leiteten, habe er zunächst allein der Beschreibung der industriellen Produktionsweise gedient. „Einer hat Kapital, viele andere bringen ihre Arbeit ein, der Kapitalist behält den Mehrwert.“ Später sei der Begriff aufgefächert worden. Man spreche heute unter anderem auch vom Finanzkapitalismus. Dabei gehe es „nicht um die Produktion von Gütern, sondern um die gewinnträchtige Verfügungsmacht über bewegliches Geldkapital, mit dem zum Teil sehr weitreichend ökonomische und politische Entscheidungen beeinflusst werden“.
Die Anarchie in der vom Konkurrenzkampf und von Profitmaximierung, einer besonders aggressiven Form des „Krieges aller gegen alle“, stimulierten und getriebenen Wirtschaft, kann durch keinerlei konservierende Maßnahmen, ob diktatorisch angeordnet und durchgesetzt oder demokratisch erwogen und probiert, aufgehoben werden. Kritisches Herangehen, Mut und Wille zu radikalem und konsequentem Umgestalten, aber auch Beharrlichkeit und Geduld sind stets erforderlich zu erhebendem und bewahrendem Verändern. In allen von Menschen organisierten gesellschaftlichen Verhältnissen gilt es, den Konsens der verschiedensten Interessen herzustellen, die sich aus der Widersprüchlichkeit zwischen den Emanzipations- und Integrationsprozessen ergeben. Es gilt letztlich Gesellschaftsverhältnisse zu gestalten, unter denen sich jeder in eigentümlicher Art und Weise und in seinem Interesse in die Gesellschaft einbringend und sich seiner biopsychosozialen Wesenheit bewusst seiend, das ihm Gemäße erarbeiten kann.