Die Stimmen derer, die den letzten Krieg in unseren Breitengraden noch miterlebt haben, sind dünn geworden. Aber es existieren noch genügend Menschen, die sie gekannt haben, und zwar auf allen möglichen Seiten. Was sie erzählen konnten, war, man staune, in der Quintessenz immer das Gleiche: den Krieg verloren haben immer alle, die daran teilnehmen mussten, egal auf welcher Seite. Denn sie haben dafür mit ihrem Leben, ihrem Unglück, ihrer verlorenen Unschuld und ihrem Glauben an die Gattung selbst bezahlen müssen. Und sie hatten, ebenso unabhängig davon, auf welcher Seite sie gekämpft hatten, letztendlich den Respekt vor denen, die ihnen gegenüberstanden, (meistens) nicht verloren. Denn gehasst hatten sie ihr Gegenüber nicht. Wenn aus diesen denkwürdigen wie grauenhaften Erinnerungen ein Hass geblieben war, dann bezog er sich auf diejenigen, die Kriege inszenieren und dieses aus dem Kalkül des materiellen Gewinns machen.
Ich habe mit vielen gesprochen, die im großen letzten Krieg dabei waren. Manche überlebten die Feldzüge als Soldaten, manche flohen vor den Tyrannen in die USA, andere wiederum entkamen KZs und flohen in die Sowjetunion. Manche kamen nach dem großen Gemetzel zurück, andere wiederum blieben dort, wohin sie der Wahnsinn getrieben hatte.
Die einen hatten ihr Leben verloren, die anderen ihre Heimat, nur das Gedächtnis, das blieb. Sie blickten zurück, mir einer gewissen Wehmut, und in manchen Fällen waren sie denen dankbar, die dem Schrecken ein Ende bereitet hatten oder denen, die sie in ihre Reihen aufgenommen hatten und ihnen eine neue Heimat gaben.
In Bezug auf die Erfahrungen, die nun von der biologischen Verfügbarkeit in nicht mehr gelesene Archive wandern, ist eines festzustellen: der jetzige Diskurs über den Krieg in der Ukraine negiert die gemachten Erfahrungen aus dem großen Krieg vollends. Ganz im Gegenteil: Wir haben eine mediale Öffentlichkeit, die nach ständiger Eskalation ruft und deren Ratio sich auf die Parole “Mehr Krieg” erstreckt.
Wir haben Politiker, die sich von dieser Propagandaabteilung vor sich hertreiben lassen. Wir haben eine Kriegspartei, die als die eigene betrachtet wird, die Hass und Hetze verbreitet und ohne mit der Wimper zu zucken den kompletten Ruin des eigenen Landes in Kauf nimmt. Wir haben die – wie immer vorhanden – mutigen Zuschauer von außen, die nach mehr Krieg schreien, obwohl sie selber im Trockenen sitzen. Und wir haben die Einfältigen, die glauben, dieser Krieg sei etwas ganz Neues und markiere eine Zeitenwende. Das einzige, was an diesem Krieg neu ist, ist die geografische Nähe zum Auge des Betrachters.
Und wir haben diejenigen, die aufgrund des Kriegsausbruchs auf die geniale Idee kommen, sie hätten sich in ihren Bemühungen, einen Krieg zu verhindern, im Gegenüber geirrt und man hätte schon sehr viel früher selbst zum Mittel des Krieges greifen müssen. Die Verantwortung für das Scheitern liegt nicht an der zu späten Erwägung der Option des Krieges, sondern an der schlampigen und arroganten Zerstörung der Möglichkeit des Friedens.
Angesichts – zumindest im europäischen Kontext – der gezogenen Option eines langen, alle Seiten zerrüttenden Krieges, wird erst spät deutlich werden, zu welch geringem Preis man das, was am Schluss in einer Vereinbarung zu lesen sein wird, hätte erreichen können. Erst dann wird auch dem zögerlichsten Betrachter deutlich werden, wie verheerend schlecht, wie kurzsichtig und wie banal das Personal agiert hat, das auf allen Seiten die Geschicke der beteiligten Länder zu verantworten hatte.
Wenn es ein Trost sein soll, dass das immer so war, dass die einen dumm genug waren, alles zu verspielen, während andere sich beim Untergang der anderen die Taschen vollmachten, dann soll sich trösten, wer will.
Quellen und Anmerkungen
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Alles beginnt mit dem ersten mutigen Schritt!
Journalismus hat eine Zukunft, wenn er radikal neu gedacht wird: Redaktion und Leserschaft verschmelzen zu einem Block – der vierten Gewalt. Alles andere ist Propaganda.
Foto: Sumaid pal Singh Bakshi (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
Eine Antwort auf „Erinnerung: Krieg verlieren immer alle“
Wir haben Politiker als Repräsentanten an der Spitze unseres Staates. Was wir bräuchten sind Menschen.