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Rezension

100 Gramm Wodka – Emotionale und geografische Weiten

“Auch wenn ein Reisebericht als Lektüre wohlbehalten bei einer Tasse Tee zu verrichten ist, hat mich “100 Gramm Wodka” von Fredy Gareis emotional sehr angestrengt. Er verdeutlichte am Beispiel der sogenannten Russlanddeutschen die Leiden und Verheerungen der europäischen Geschichte.”

Die Zahlen über die in Deutschland lebenden Menschen, die mal als Russlanddeutsche, mal als Bürgerinnen und Bürger mit russischem Hintergrund bezeichnet werden, schwanken beträchtlich. Dennoch sollte man sich die Dimension vor Augen führen: Die vorsichtigsten Schätzungen gehen von 2.5 Millionen aus, aber die Zahlenwerke reichen bis zu 4 Millionen (1). Ein angesichts der jüngsten historischen Ereignisse nicht zu unterschätzender innenpolitischer Faktor.

Der Journalist Fredy Gareis, seinerseits 1975 in Alma-Ata (2) geboren und in Rüsselsheim aufgewachsen, zählt zu dieser Gruppe. Am Sterbebett seiner Großmutter, die es nach einer langen, beschwerlichen und zumeist verschwiegenen Lebensreise bis nach Mannheim geschafft hatte, nimmt er sich vor, das Land seiner Familie und seiner eigenen Herkunft und die Orte aufzusuchen, an denen sich seine Familie auf den verschiedenen Stationen zwischen gemäßigtem Wohlstand, Deportation, Zwangsarbeit und den großen Mühlen der Weltpolitik aufgehalten hatte.


Fredy Gareis: 100 Gramm Wodka. Auf Spurensuche in Russland. (Quelle: Gerhard Mersmann / YouTube)

Sein Reisebericht, der unter dem Titel “100 Gramm Wodka. Auf Spurensuche in Russland” erschienen ist, ist eine atemberaubende Schilderung allein schon wegen der geografischen wie emotionalen Weiten, die es für den Erzähler zu überwinden galt.

Von Sankt Petersburg bis Magadan

Die Reise begann im europäischen Geist entstandenen Sankt Petersburg, ging über Moskau, den Kopf Russlands, bis zum pazifischen Magadan. Insgesamt 12.000 Kilometer hat Gareis zurückgelegt, im Auto und auf der Schiene. Dabei hat er Menschen unterschiedlichster sozialer Zugehörigkeit wie ethnischer Provenienz getroffen. Die Begegnungen bestätigen unzählige Vorurteile, die hierzulande gegenüber Russland gepflegt werden, aber sie eröffneten auch Sichtweisen, die weder populär noch spektakulär sind, die jedoch dazu beitragen, dieses gewaltige wie gewalttätige Land besser zu verstehen – auch wenn Letzteres in einer mehr und mehr in den unaufgeklärten Wahnsinn abgleitenden Gesellschaft nicht mehr dazugehören mag.

Der eigentliche Anlass der Reise, die eigene Familiengeschichte zu erhellen, gerät dabei nicht in Vergessenheit durch den immer wieder vorgenommenen Rekurs auf die Geschichte: von der Anwerbung deutscher Handwerker durch Katharina die Große, deren Ansiedlung im Wolga-Gebiet, ihre ersten Deportationen während des napoleonischen Feldzugs (3), die weiteren Umsiedlungen während des Ersten und während des Zweiten Weltkrieges, ihr Einsatz in den Gulags und die Rückkehr aus dem fernen Asien in die spätere Bundesrepublik. Gareis selbst beendet seine Reise in Magadan am Ochotskischen Meer.

Auch wenn ein Reisebericht als Lektüre wohlbehalten bei einer Tasse Tee zu verrichten ist, hat mich “100 Gramm Wodka” emotional sehr angestrengt. Er verdeutlichte am Beispiel der sogenannten Russlanddeutschen die Leiden und Verheerungen der europäischen Geschichte, er gab ein bewegendes Bild über die emotionale Befindlichkeit derer, die von einer unendlichen wie unwirtlichen Weite in die nächste getrieben wurden, er verdeutlichte, dass Menschen, die die russische Seele verkörperten, diesen Menschen aber auch Hoffnung vermittelten und ihnen dazu verhalfen, zu überleben.

Und der Autor Fredy Gareis fand heraus, warum seine Verwandten nie darüber sprechen konnten und wollten. Bei einem traditionellen Borschtsch, bei eingelegten Gurken und Tomaten, bei Kartoffelsalat, bei Wodka und Tee und einer russischen Napoleon-Torte, deren helle Creme den russischen Winter versinnbildlicht, an dem nicht nur ein Invasor scheiterte.


Informationen zum Buch

100 Gramm Wodka

Auf Spurensuche in Russland

Autor: Fredy Gareis

Genre: Belletristik

Sprache: Deutsch

Seiten: 256

Erscheinung: 2015

Verlag: Piper

ISBN: 978-3-89029-457-5

Über den Autor: Fredy Gareis (Jahrgang 1975) wurde in Kasachstan geboren, wuchs in Rüsselsheim auf und lebt aktuell in Deutschland und Griechenland. Nach dem Abitur arbeitete er unter anderem als Reinigungskraft, Taxifahrer und Medikamententester. Er wandte sich später dem Journalismus zu und war beispielsweise für Deutschlandradio, Die Zeit und den Tagesspiegel tätig. Seit 2013 ist Fredy Gareis, der mehrfach ausgezeichnet wurde, freier Autor. Im Piper Verlag erschienen seine Bücher “Tel Aviv – Berlin”, “100 Gramm Wodka”, “König der Hobos” und “Vier Räder, Küche, Bad”. Homepage: www.fredygareis.com


Quellen und Anmerkungen

(1) Sowohl die in Russland verbliebenen Deutschen als auch die aus Russland zugewanderten Deutschen wurden und werden als Russlanddeutsche geführt. Amtlich wird zwischen Aussiedlern (bis 1993 zugewandert) und Spätaussiedlern (seit 1993 zugewandert) unterschieden. Privilegiert sind nur ausgesiedelte Russlanddeutsche nach Art. 116 Abs. 1 Grundgesetz als deutsche Volkszugehörige in der Bundesrepublik Deutschland. Wie die Stuttgarter Zeitung am 24. Februar 2022 berichtete (siehe: https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.russen-in-deutschland-migranten-russen-russlanddeutsche.f9ff2df0-bc46-495f-af08-ba1875576840.html; Link abgerufen am 13.4.2022), hatten im Jahr 2020 rund 21,9 Millionen der insgesamt 81,9 Millionen Einwohner in Deutschland einen Migrationshintergrund (Zugewanderte und ihre Nachkommen), was einem Anteil von 26,7 Prozent an der Gesamtbevölkerung entspricht. Rund 2,5 Millionen Menschen kamen als Aussiedler beziehungsweise Spätaussiedler (vor allem aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion) nach Deutschland.

(2) Die Stadt Almaty, von 1921 bis 1993 Alma-Ata, ist mit rund zwei Millionen Einwohnern die größte Stadt Kasachstans. Sie war von 1936 bis 1991 Hauptstadt der Kasachischen SSR und nach dem Zerfall der Sowjetunion bis 1997 von Kasachstan.

(3) Am 24. Juni 1812 überschritt Napoleon I. (1769 bis 1821) mit seiner “Grande Armée”, die noch nicht einmal zur Hälfte aus französischen Soldaten bestand, die Grenze des russischen Zarenreiches. Durch einen zeitlich kurzen Feldzug und (im Idealfall) einer Entscheidungsschlacht, wollte Napoleon Zar Alexander I. (1777 bis 1825) zu Verhandlungen zwingen. Der Feldzug scheiterte aber an der russischen Taktik der verbrannten Erde, Versorgungsproblemen und dem eisigen Winter. Auf die Niederlage der “Grande Armée” in Russland folgten die sogenannten Befreiungskriege. Sie setzten Napoleons Herrschaft über Europa ein Ende.


Woman black white. (Foto: Andrey Zvyagintsev, Unsplash.com)

Schluss mit dem Theater …

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Foto und Video: Yura Lytkin (Unsplash.com) und Gerhard Mersmann

Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

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