Marx hat in seinen Frühschriften einen Begriff verwendet, der bei der Untersuchung der gegenwärtigen politisch-ökonomischen Verhältnisse erkenntnisleitend sein kann: den Begriff der Entfremdung. Bezogen auf Programme wie den “Great Reset”, die “Vierte industrielle Revolution” und den “Transhumanismus” – Topoi, die unter anderem vom World Economic Forum (WEF) unter dem Vorsitz von Klaus Schwab in die Diskussion eingebracht wurden – besitzt das Theorem der Entfremdung ein analytisch zu nutzendes Erklärungspotenzial.
Im folgenden Beitrag (1) wird aufgezeigt, dass das vom jungen Karl Marx thematisierte Phänomen der Entfremdung heute nichts von seiner gesellschaftskritischen Kraft eingebüßt hat. Es kehrt – gleichsam auf einer neuen Entwicklungsstufe – wieder.
Verbunden mit dem vom späten Marx entwickelten Gedanken der Unterordnung (“Subsumtion”) des Menschen unter das Kapital und dessen Erfordernisse lässt sich eine Gesellschaftsanalyse entwerfen, die der allgemeinen Theorie- und Sprachlosigkeit der Linken (oder was heute davon noch übrig geblieben ist) Abhilfe verschaffen könnte.
Die “entfremdete Arbeit” in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten
Der Ausgangsgedanke beim jungen Marx ist “die entfremdete Arbeit”. In den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 – bekannt auch als “Pariser Manuskripte” (2) – beschreibt er Entfremdung als einen Zustand, in dem die ursprüngliche natürliche und sinnliche Beziehung des Menschen zu sich selbst, zu seinen Mitmenschen, zu seiner Arbeit und dem Produkt seiner Arbeit sowie zur Natur gestört (“entfremdet”, “verdinglich”, “entäußert”) ist.
Unter den Bedingungen der Lohnarbeit, für deren Verrichtung die erforderlichen Produktionsmitteln durch deren Eigentümer bereitgestellt werden, ist der vergesellschaftete Mensch im Kapitalismus sich selbst und seiner ursprünglichen Natur entfremdet: Um seine Bedürfnisse befriedigen zu können, veräußert er sich zum Lohnerwerb durch bezahlte Arbeit an das Unternehmen beziehungsweise die Unternehmer (“das Kapital”), denen er seine Arbeitskraft vertraglich (“formell”) und faktisch zur Verfügung stellt. Während der vereinbarten Arbeitszeit, in welcher er dem Kapital unterstellt (“subsumiert”) ist, ist er in erster Linie Arbeitskraft und seiner ursprünglichen menschlichen Natur entfremdet.
Er befindet sich nicht im unmittelbaren Austausch mit seiner sozialen und natürlichen Umwelt. Seine Interaktionen gesellschaftlicher Art und innerhalb des ökologischen Umfeldes sind nicht direkter Art, sondern politisch-herrschaftlich und wirtschaftlich-monetär vermittelt. In gleicher Weise hat “die entfremdete Arbeit” zur Folge, dass der Mensch als Lohnabhängiger sein Tätig-Sein als ein ihm äußerliches erfährt und das Produkt seiner Tätigkeit als ein von ihm produziertes, ihm aber nicht gehörendes Ding.

Das Produkt der nicht selbstbestimmten, sondern entfremdeten Arbeit ist zwar von ihm geschaffen, aber nicht ‘sein’ Werk, über das er frei verfügt. Es ist vielmehr Eigentum des Eigentümers der Produktionsmittel, des Unternehmens beziehungsweise der Unternehmer, die sich das Produkt ebenso aneignen, wie sie sich die Arbeitskraft des lohnabhängigen Produzenten vertraglich angeeignet haben. Grundlegend für die Entfremdung des Arbeiters von seinem Produkt ist, “dass er Waren und sich selbst darin als Ware produziert” (3). Marx:
“Es kömmt daher zu dem Resultat, dass der Mensch (der Arbeiter) nur mehr in seinen tierischen Funktionen, Essen, Trinken und Zeugen, höchstens noch Wohnung, Schmuck etc., sich als freitätig fühlt und in seinen menschlichen Funktionen nur mehr als Tier. Das Tierische wird das Menschliche, und das Menschliche das Tierische.” (4)
In den “Pariser Manuskripten” behandelt Marx die “entfremdete Arbeit” auf dem industriellen Entwicklungsniveau seiner Zeit, das heißt um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Es ist die Periode des Übergangs von der Agrar- zur Industriegesellschaft, die gegen Mitte des 18. Jahrhunderts ihren Anfang genommen hat. Zu den bedeutendsten Erfindungen der damaligen Zeit gehörten Maschinen wie der mechanische Webstuhl und die Spinnmaschine zur Tuchherstellung, ferner die Wasser- und Dampfkraftmaschinen sowie die Dampfschifffahrt und die Entwicklung der Eisenbahn auf der Basis der im Bergbau gewonnenen Kohle als Energiequelle.
Entfremdung und die Zweite industrielle Revolution
Mit Beginn der Zweiten industriellen Revolution (5) gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde die fabrikförmige Produktion von Stahl und Chemikalien auf der Grundlage von weiteren Energieträgern wie Erdöl, anderer fossiler Energiequellen (Gas) und der Elektrizität weiter entwickelt und ausgeweitet. Die Einführung des permanenten Fließbands, etwa bei der Autoproduktion von Ford ab 1913, und erste Ansätze der Automatisierung hatten die Gliederung des Produktionsprozesses in Teilschritte und damit weitergehende Formen der Entfremdung zur Folge.
Die Produktion wurde in einzelne, in sich abgeschlossene Arbeitsschritte unterteilt. Die Arbeitstätigkeiten wurden spezialisiert und auf entsprechend qualifizierte Lohnarbeiter übertragen, die sowohl dem Endprodukt ihrer Tätigkeit als auch sich selbst und ihren eigenen vielfältigen Fähigkeiten gegenüber noch einschneidender entfremdet waren als die Werktätigen zuvor. Die Monotonie und strenge Taktung des Produktionsprozesses erhöhte den Grad der Selbstentfremdung sowie die Entfremdung einerseits von der menschlichen Natur sowie andererseits von natürlichen Prozessen, zum Beispiel von der Abfolge sowohl der Jahreszeiten als auch von Tag und Nacht durch elektrisches Licht und die Einführung der Schichtarbeit.
Bis zu einem gewissen Grad an Bedeutung verloren haben die räumlichen Entfernungen. Erste Schritte der internationalen Produktion erfolgten im Rahmen der Telekommunikation (Telegrafie, Telegramm, Fernsprecher, Kabelverbindungen, Fotozelle) und neuer Verkehrsmittel auf Straße und Schienen sowie per Schiff und in der Luftfahrt. So entwickelten sich einerseits die modernen Globalisierungsprozesse, auch hinsichtlich der länderspezifischen Arbeitsteilung im Rahmen dessen, was als “verlängerte Werkbank” bezeichnet wird. Andererseits entstanden neue Lohnarbeitsverhältnisse, etwa in der Telekommunikation (Telefonistin) und im Transportwesen (Fernfahrer, Zugführer, Schaffner), also jenseits von Fabriken und Werkhallen.
Abgesehen davon, dass sich ihre Arbeitsleistung nicht als Ware materialisiert, waren und sind die Lohnabhängigen in diesen Branchen jedoch den annähernd gleichen Entfremdungsprozessen ausgesetzt wie die von Marx in den “Pariser Manuskripten” erörterten Fabrik- und Heimarbeiter.
Die Ausweitung der verschiedenen Formen von Entfremdung
Der Beginn einer Dritten industriellen Revolution (6) in den 1960er-Jahren wird in Verbindung gebracht mit dem Aufkommen der Informations- und Kommunikationstechnologie (Radio, Fernsehen, Handy, Smartphone, Hard- und Software für Computer und Netzwerke, für Satellitensysteme sowie für die verschiedenen, damit verbundenen Dienstleistungen und Anwendungen). Damit verknüpft war die enorme Bedeutungszunahme der Print- und Elektronikmedien als Quelle der Information, der Unterhaltung und als Mittel der Steuerung und Manipulation im Bereich der Politik (Public Relations, Propaganda) sowie des Konsums (Werbung).
Es entstanden zusätzliche Energiequellen wie der Atomstrom und die erneuerbare Energie. Im Rahmen der industriellen Produktion spielte vor allem die Entwicklung der Elektronik eine neue entscheidende Rolle. Es folgte die sukzessive Automatisierung einzelner Arbeitsschritte, und vermehrt wurden Roboter eingesetzt. Bereits in den 1940er-Jahren sind Halbleiter entwickelt worden. Mit ihnen entstanden auch die ersten programmierbaren Steuerungen, und erste große Rechenmaschinen hielten Einzug in Großfirmen. In den 1970er und 1980er-Jahren kamen Personal Computer in Büros und privaten Haushalten zum Einsatz, in den 1990er-Jahren das Internet als Vorankündigung einer weiteren industriellen Revolution.

Sämtliche Neuerungen hatten die Ausweitung der verschiedenen Formen der Entfremdung zur Folge. Die “entfremdete Arbeit” bestimmte nunmehr nicht nur die fabrikförmige Produktion, den Hoch- und Tiefbau sowie die Bereiche der Telekommunikation und des Transportwesens, wie es bei der Ersten und Zweiten industriellen Revolution zu beobachten war. Sie erstreckte sich zunehmend auf einen Großteil der Bürotätigkeiten, des Bank- und Versicherungswesens, der Medien für Kommunikation und Information, auf Kunst, Kultur und Unterhaltung, den Zahlungsverkehr und den Konsum und nicht zuletzt auf das Sozial- und Gesundheitswesen.
In all diesen Bereichen der Dienstleistungserbringung sind die dort lohnarbeitend Tätigen Prozessen der Entpersönlichung und Verdinglichung ausgesetzt. Sie werden zunehmend sich selbst, ihrer Tätigkeit und ihren Mitmenschen entfremdet, indem sie in ihrer Funktion bestimmten, oft außengeleiteten Rollenmustern zu entsprechen haben, etwa als Moderator/in, Sprecher/in, Kommentator/in, Comedian, Sachbearbeiter/in, Kassierer/in im Supermarkt, Facility Manager, Schalterangestellte/r, Kontrolleur/in, spezialisierte Fachärztin oder -arzt und so fort.
Die Veränderungen im Rahmen der Dritten industriellen Revolution deuten sich auch sprachlich an, etwa wenn die Rede ist von der Finanzindustrie, der Unterhaltungsindustrie, der Werbeindustrie, der Bewusstseins- und Kulturindustrie (7) oder von der Industrialisierung des Sozialwesens (8), des Gesundheitswesens (9), der Pflege (10) und der Psychotherapie (11). Ihren Niederschlag finden diese Veränderungen ferner in der Management-Orientierung der Dienstleistungsberufe sowie angesichts von deren Kommerzialisierung, Ökonomisierung und Kommodifizierung (12). Neu geschaffene Konzepte wie Sozialwirtschaft oder Kulturwirtschaft deuten an, dass die in diesen Bereichen Tätigen ebenfalls mit Entwicklungen konfrontiert sind, die Marx in ihrem ursprünglichen Entstehungszusammenhang als Entfremdung charakterisiert hat.
Die Entfremdung von ihren Mitmenschen zeigt sich bei den Lohnabhängigen in den Dienstleistungsberufen (13) darin, dass ihnen die Adressaten, Klienten oder Patienten nicht mehr als Unterprivilegierte, Leidende oder Hilfebedürftige gegenübertreten, sondern zunehmend in der neutralen, versachlichten Rolle des Kunden.
Dies hat bei den Lohnabhängigen ein Rollenverständnis zur Folge beziehungsweise Voraussetzung, bei dem ihre formale Qualifikation und berufliche Funktion dominieren und nicht mehr ihr persönliches Selbstverständnis von Hilfeleistung, Zuwendung, Anteilnahme und Humanität. Der Arzt wird zu einer Art Ingenieur (14), die helfende Tätigkeit wird zur Erwerbstätigkeit versachlicht. Sie verliert ihren ursprünglich zwischenmenschlich-humanen Charakter. Das Produkt der Arbeit objektiviert sich in Form von Protokollen, Leistungsnachweisen und anderen Formen der Dokumentation, vorgeblich zum Zweck der Qualitätssicherung.
Fragwürdigkeit der dogmatischen Soziologie des Proletariats
Zusammenfassend lässt sich erkennen, dass mit der Entwicklung der Produktivkräfte – vom mechanischen Webstuhl bis hin zur Kommerzialisierung von personenbezogenen Dienstleistungen – ein Prozess einhergeht, in den zunehmend mehr Menschen als Lohnabhängige einbezogen und von ihrem Selbst, den Anderen, der Natur, ihrer Arbeit und dem Produkt ihrer Arbeit entfremdet werden. Eine Marx-Lektüre, wenn sie auf dem Stand der zeitgenössischen Studien zur Zeit ihrer Entstehung im 19. Jahrhundert verharrt, kann diese Entwicklung nicht angemessen nachvollziehen und neigt zu einer dogmatischen Soziologie des Proletariats.
Dem Verständnis des klassischen Proletariats gemäß zählen zur Arbeiterklasse ausschließlich diejenigen Werktätigen, die meist als Stammbelegschaften nach Absolvierung einer Lehre oder angelernt in Fabriken, Produktionsstätten und Laboren, im Bergbau und Baugewerbe (Hoch-, Tief- und Straßenbau), beim Fischfang, im Verkehrs- und Vertriebswesen, auf Öl- und Gasförderfeldern, bei der Lebensmittelzubereitung, in der Landwirtschaft und bei der Viehzucht einer lohnabhängigen, meist körperlichen Tätigkeit nachgehen.
Als Arbeiter galt über einen langen Zeitraum “jeder Berufstätige, der seine Arbeitskraft, sein Können, seine Fähigkeiten und Fertigkeiten in abhängiger sozialer Stellung (Arbeitnehmer) gegen Entgelt (Lohn) zur Verfügung stellt. Die Grundlage für die soziale Existenz des Arbeiters bildet eine gesellschaftliche Produktionsform, die auf Arbeitsteilung und betriebliche Konzentration der Produktionsmittel beruht. Die arbeits- und sozialrechtliche sowie die dahinterstehende gesellschaftspolitische Unterscheidung von Beamten und Angestellten einerseits und Arbeitern andererseits orientiert sich an Merkmalen wie geistige und körperliche Arbeit oder an der räumlichen Trennung der Arbeitsprozesse nach Büro und Werkstatt.” (15) Neuerdings ist allerdings die “ursprüngliche Unterscheidung nach dem Gesichtspunkt, dass Angestellte geistige Arbeit, Arbeiter manuelle Arbeit verrichten, nicht aufrecht zu erhalten (Facharbeitertätigkeit mit hohen geistigen Anforderungen verbunden).” (16) Die moderne sozialwissenschaftliche “Arbeiter”-Definition hat erkannt, dass im Verlauf der Dritten industriellen Revolution das Unterscheidungskriterium “geistig vs. körperlich/manuell” fragwürdig geworden ist.
Die in diesem Veränderungsprozess erfolgte Einbeziehung neuer Gruppen von Lohnabhängigen in den kapitalistischen Entfremdungszusammenhang scheint – oberflächlich betrachtet – ein Ergebnis der fortschreitenden Entwicklung der Produktivkräfte zu sein. Was aber ist die Triebfeder der Produktivkraftentwicklung?
Diese Frage lässt sich vor dem Hintergrund der zentralen Rolle beantworten, die im Kapitalismus dem Profit und seiner Generierung zukommt. Steigende Profite stellen die ‘Normalität’ kapitalistischer Produktion dar. Stagnieren die Profite oder fallen sie, gerät die kapitalistische Produktionsweise in eine Krise. Mit den Worten von Wolfram Elsner:
“In typischen politischen, sozialen und ökonomischen Konstellationen reflektieren die Profitraten und ihre Veränderungen typische Profitrealisierungsbedingungen, Konkurrenzbedingungen, Stimmungen, Erwartungen, Reaktionshandlungen und entsprechende makroökonomische Ergebnisse.” (17)
In einer Art “Endspiel des Kapitalismus” (18) entsteht ein Wettkampf der Konzerne, um die zur Krisenbewältigung erforderlichen Veränderungen vorzunehmen.
Entfremdung und zyklische Produktivkraftentwicklung
Die Industriellen Revolutionen I bis III lassen sich als kapitalistische Auswege aus Sozial- und Wirtschaftskrisen interpretieren. Diese signalisieren einen Paradigmenwechsel im Sinn der ‘Theorie der Langen Wellen’ von Nikolai Kondratjew (19). Ihm zufolge führen zyklische Krisen zu innovationsinduzierten Investitionen: Indem massenhaft in neue Techniken investiert wird, werde ein neuer Aufschwung erzielt. Aus dieser Sicht lassen sich folgende zyklische Perioden benennen, die mit den genannten Industriellen Revolutionen korrelieren:
- erstens die Periode der Frühmechanisierung von ca. 1780 bis 1840 – ein Zeitraum, an dessen Ende das Biedermeier (ca. 1815-1848) datiert wird;
- zweitens der Zeitraum von circa 1840 bis 1890 (Bessemerstahl, Eisenbahn und Dampfschiffe) – die Periode, die in Mitteleuropa als Gründerzeit bekannt ist;
- drittens die Periode von 1890 bis 1940, einerseits geprägt von der Weltwirtschaftskrise der 1920er-Jahre, andererseits innovativ hinsichtlich der Entwicklungen in den Bereichen der Chemie, der Elektrotechnik und des Schwermaschinenbaus.
Nach Kondratjew folgt in der Periode von circa 1940 bis 1990 ein weiterer Zyklus, als dessen Basisinnovationen die Automation, integrierte Schaltkreise, Transistoren, Atomenergie, Automobile und Computer zu nennen sind.

Etwa zeitgleich zu den Kondratjew’schen Krisen- und Aufstiegszyklen sowie zu den Perioden der Industriellen Revolutionen finden bedeutende Kriege statt: zunächst am Beginn der Frühindustrialisierung der Nordamerikanische Unabhängigkeitskrieg von 1775 bis 1783; dann in der Periode der Zweiten industriellen Revolution der Erste Opiumkrieg zwischen Großbritannien und dem chinesischen Kaiserreich von 1839 bis 1842; schließlich der Erste und Zweite Weltkrieg von 1914 bis 1918 und – nach einer kurzen Zwischenkriegszeit – von 1939 bis 1945.
Die annähernde Zeitgleichheit von industriellen Umwälzungen, ökonomischer Auf- und Ab-Entwicklung im Verlauf der Kondratjew-Zyklen und großkriegerischen Auseinandersetzungen und führt zu der Frage, ob zwischen diesen Phänomenen ein innerer Zusammenhang zu erkennen ist, der mit den Schwankungen der Profitrate in Verbindung steht. Zugleich ist davon auszugehen, dass die lohnabhängig Werktätigen während dieser Zeitspannen auf neue, bisher nicht gekannte Weise den Prozessen der Entfremdung ausgesetzt sind.
Mehrwertsteigerung durch Extensivierung
Die Antwort auf die Frage nach dem Zusammenhang von Krise, Industrieller Revolution, Kriegshandlungen und Entfremdung ergibt sich aus der Einsicht in die Bedingungen und den Prozess der Mehrwertgewinnung und -steigerung im Rahmen kapitalistischer Produktion. Dabei sind zwei Methoden zur Steigerung der Profitraten zu unterscheiden: die der Intensivierung und die der Extensivierung.
Bei beiden Begriffen handelt es sich um dynamisch-relationale Termini, das heißt “sie bezeichnen keine Zustände, sondern Handlungsrichtungen des industriellen Kapitals in seinem Streben nach Profitmaximierung. Empirisch geht Intensivierung der Arbeit oft mit technischer Effizienzsteigerung der Arbeitsmittel einher. Wie diese bewirkt sie Steigerung der Arbeitsproduktivität. (…) Der Übergang zur hochtechnologischen Produktionsweise hat die Intensität der Arbeit in neuer Dringlichkeit auf die Tagesordnung gesetzt.” (20)
Eine Intensivierung (“Verdichtung”) der Arbeit erfolgt also dann, wenn das produzierte Arbeitsvolumen quantitativ und/oder qualitativ innerhalb einer bestimmten, vorgegebenen Arbeitszeit merklich erhöht wird. In diesem Fall arbeiten die Werktätigen nachhaltiger, der Arbeitsprozess wird intensiviert.
Die Extensivierung der Arbeit hingegen betrifft einerseits den Umfang der anfallenden Produktion und andererseits den Einsatz der betriebswirtschaftlichen Produktionsfaktoren, sprich: die Arbeitszeit, die bei der Arbeit eingesetzten Betriebsmittel und Kapitalgüter sowie den Boden. Methoden der gewaltförmig-kriegerischen Art spielen eine weitere Rolle.
Es liegt auf der Hand, dass eine Verlängerung der Wochen- oder Lebensarbeitszeit den betriebswirtschaftlichen Effekt hat, die Mehrwertproduktion zu steigern. Gleiches gilt bei unbezahlten Überstunden oder wenn andere Methoden einer zeitlichen Verlängerung der Erbringung von Arbeitsleistung zur Geltung gelangen (zum Beispiel weniger Urlaub, Kürzung von Arbeitspausen, Erschwerung der Krankschreibung). Freiwillige unbezahlte Leistungen im Rahmen des sogenannten Ehrenamts, von Praktika und Jugend-Freiwilligendiensten sind hier ebenfalls zu nennen.
Im Zusammenhang von Kriegen sind die Ausbeutung von Gefangenen durch Zwangsarbeit oder der sexuelle Missbrauch durch Zwangsprostitution probate Mittel der direkten beziehungsweise mittelbaren Mehrwertsteigerung. Schlechte Ernährung, billige Unterkünfte und mangelnde medizinische Versorgung sind zusätzliche Instrumente der Extensivierung. Kriegsflüchtlinge in der Ausbildung oder mit bereits erworbenen beruflichen Qualifikationen tragen ebenfalls auf indirekte Weise zur Extensivierung bei. Sie führen eine gesellschaftliche Situation herbei, in der sich die gesteigerte Konkurrenz um Arbeitsplätze nachteilig auf den gewerkschaftlichen Kampf für angemessene Löhne auswirkt.
Eine Steigerung des extensiv erwirtschafteten Mehrwerts kann ferner aus dem Einsatz von materiellen und immateriellen Betriebsmitteln resultieren, die zu vergleichsweise günstigeren Konditionen erworben oder eingesetzt werden können.
Als immaterielle Betriebsmittel gelten in diesem Zusammenhang beispielsweise Patente, Lizenzen, Konzessionen und Schutzrechte, fachliche Informationen, Software, Kenntnisse und Wissen. Materielle Betriebsmittel sind Grundstücke und Gebäude, Maschinen, maschinelle Anlagen und Werkzeuge sowie die firmeneigenen Transport-, Betriebs- und Geschäftsausstattungen (Büromöbel, Lager- und Werkshalleneinrichtungen).
Je günstiger diese Betriebsmittel zu erwerben sind, desto höher der extensiv zu erwirtschaftende Mehrwert. Enteignungen, wie sie bestimmten sozialen oder ethnischen Gruppen gegenüber vorgenommen wurden (zum Beispiel gegenüber Juden im Nazi-System) oder werden, spielen hier ebenfalls eine bedeutende Rolle.
Der Boden im Sinn der wirtschaftlich nutzbaren Erde ist ein weiterer Faktor extensiver Bewirtschaftung zur Mehrwertsteigerung. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang die Düngung oder die Auslagerung der Produktion in Billiglohnländer als zusätzliche Methode zur Gewinnmaximierung durch Extensivierung der Arbeit. Gleiches gilt für die Auslagerung der Produktion in kriegerisch eroberte und besetzte Länder, die ihrer Betriebsmittel, Arbeitskräfte und Rohstoffe (“Petro-Imperialismus”) beraubt werden.
Eine besondere Rolle spielen die destruktiv-zerstörerischen Auswirkungen von Kriegen und militärischen Einsätzen auch unter dem Aspekt, dass die zerbombten Häuser, Fabriken, öffentlichen Einrichtungen und die demolierte Infrastruktur neu errichtet werden müssen. Der Wiederaufbau und die dafür notwendigen, ebenfalls zu produzierenden Materialien erweitern den Umfang der anfallenden Produktion und somit den Rahmen, innerhalb dessen die Extensivierung der Arbeit stattfindet. Kriege erhöhen die Gewinne, ganz abgesehen von den Profiten bei der Produktion von Kriegsmaterial und Waffen durch die Unternehmen des Militärisch-industriellen Komplexes.
Mehrwertsteigerung durch Intensivierung
Außer der Mehrwertsteigerung durch die Extensivierung der Arbeit ist die Intensivierung der Arbeit (bei Marx “Intensifikation” im Sinn von Verdichtung) von besonderer Bedeutung (21). Der Intensitätsgrad der Arbeit bemisst sich am Arbeitsvolumen, das innerhalb einer bestimmten Arbeitszeit verrichtet wird; es erhöht sich, wenn der Intensitätsgrad steigt. Somit ist die Intensivierung der Arbeit neben der Verlängerung der Arbeitszeit und den beschriebenen anderen Methoden zur Erhöhung der Produktivität eine weitere Möglichkeit, den Mehrwert zu steigern und einen höheren Profit zu erwirtschaften. Mit den Worten von Karl Marx:
“Der Exploitationsgrad [d. h. der Ausbeutungsgrad] der Arbeit hängt aber bei gegebenem Arbeitstag von der durchschnittlichen Intensität der Arbeit, und bei gegebener Intensität von der Länge des Arbeitstages ab. Von dem Exploitationsgrad der Arbeit hängt die Höhe der Mehrwertrate ab, also bei gegebener Gesamtmasse des variablen Kapitals die Größe des Mehrwerts, damit [i. S. v. folglich] die Größe des Profits.” (22)
Die der Extensivierung der Arbeit als alternative Handlungsrichtung hat eine Steigerung des Mehrwerts zur Folge. Dieser wird als absoluter Mehrwert (23) bezeichnet, weil er sich in absoluten Kategorien messen lässt, zum Beispiel durch die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden beziehungsweise durch die Stückzahl der innerhalb einer bestimmten Zeitdauer hergestellten Produkte. Hingegen kommt die Gewinnung von relativem Mehrwert dann zustande, wenn der Profit infolge der Intensivierung der Arbeit im Verhältnis zur absoluten Mehrwertproduktion steigt. Beide Handlungsrichtungen entsprechen einer bestimmten Form der Unterordnung der Arbeit unter das Kapital, und sie ergänzen sich:
“Die Kapitalseite nutzt die … Intensivierung der Arbeit bei gleichzeitiger Extensivierung.” (24)
Die Produktion des relativen Mehrwerts ist nach Marx das Ergebnis der sogenannten “reellen Subsumtion” (i. S. v. reale/wirkliche Unterordnung) unter das Kapital. Dieser geht die formale, das heißt die förmlich arbeitsrechtliche Subsumtion (“formelle Subsumtion”) unter das Kapital voraus. Unter formaler Subsumtion wird die Bereitstellung der Arbeitskraft für die Dauer der arbeitsvertraglich festgelegten Anwesenheit am Arbeitsplatz verstanden.
Die absolute Mehrwertproduktion ist eine Voraussetzung der relativen Mehrwertproduktion. Diese vollendet jene, indem sie den Arbeitsprozess selbst revolutioniert und produktiver macht. Absoluter und relativer Mehrwert sind Folge der formellen beziehungsweise reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital, zugleich also Auslöser der einleitend beschriebenen Entfremdungsprozesse.
Das folgende Beispiel aus den 1980er-Jahren lässt frühe Anzeichen einer solchen Entwicklung im Bereich der Sozialdienstleistungen erkennen:
“Die reelle Subsumtion der Arbeitskraft erfolgt durch organisatorische und technische Maßnahmen und Neuerungen. So verfügen Soziale Dienste über maschinelle Hilfsmittel (z. B. Schreib- und Rechenmaschinen), nutzen die Möglichkeiten der Verkehrs- und Kommunikationstechnik (z. B. Telefon, Diktiergerät) und erproben die neuen Technologien (Computer) und Medien (Btx). … Die Aus- und Weiterbildung der Mitarbeiter zielt darauf ab, neue wissenschaftliche Erkenntnisse aus den Sozial- und Naturwissenschaften praxisorientiert zu vermitteln. Im beruflichen Handlungsvollzug ebenso wie bei dessen Organisation werden wissenschaftliche Erkenntnisse und technische Innovationen bewusst angewandt, um die Produktivität der Leistungserbringung zu steigern. Bürokratisierung, Spezialisierung und Verfachlichung, Rationalisierung und Verwissenschaftlichung sind kritische Stichworte, die diese Entwicklung bei den Sozialen Diensten der öffentlichen und der freien Träger kommentieren.” (25) So das Zitat eines Zustandsberichts aus der Zeit von vor rund 35 Jahren.
Marx und der totalitäre Transhumanismus (Teil 2): Kondratjew, Schwab und die Vierte industrielle Revolution
Wie in Teil 1 des Essays “Marx und der totalitäre Transhumanismus” ausgeführt, lässt sich die gegenwärtige Periode kennzeichnen als ein Zeitraum stagnierender beziehungsweise sinkender Profitraten. Die Folgen sind vielfältige Bestrebungen des Kapitals, einen ihm entsprechenden Ausweg zu finden, indem zweierlei passiert: Einerseits wird versucht, die absolute und relative Mehrwertproduktion auf extensive und intensive Weise auszuweiten und zu erhöhen. Andererseits werden konkurrierende Anbieter der bisher bestehenden Produktionsstrukturen in den Konkurs getrieben oder insolvent gemacht. Die Zerstörung des Alten zeigt sich auf vielfältige Weise: sowohl im Rahmen kriegerischer Destruktion als auch im Zuge dessen, was Joseph Schumpeter auf euphemistische Weise die “schöpferische Zerstörung” nannte. (…)
Quellen und Anmerkungen
(1) Der folgende Beitrag stellt Überlegungen zur Renaissance einer marxistischen Gesellschaftstheorie zur Diskussion. Skizzenhaft werden Gedanken unterbreitet, die auszuarbeiten aktuell deshalb erschwert ist, weil – im April 2022 (nach zwei Jahren Pandemie-Panik und deren Folgen sowie im Zeichen der militärischen Bedrohungen durch den Ukraine-Krieg und der absehbaren Folgen der Sanktionsmaßnahmen) – die politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Ereignisse es nicht zulassen, von der Warte des akademischen Beobachters aus eine Studie vorzulegen, die den Erwartungen an eine sozialwissenschaftliche Arbeit vollauf genügt.
(2) Siehe Marx, Karl: Texte zu Methode und Praxis II. Reinbek bei Hamburg 1966: 7-133. Marx-Engels-Werke, Ergänzungsband Schriften bis 1844, Erster Teil. Berlin 1973: 465-588.
(3) Mittelstraß, Jürgen (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Band 1: A-G. Mannheim 1980: 551 (Bearbeiter des Stichworts “Entfremdung”: Siegfried Blasche).
(4) Marx-Engels-Werke: Ergänzungsband Schriften bis 1844, Erster Teil. Berlin 1973: 514 f.
(5) Der Begriff “Revolution” kennzeichnet die damit verbundenen, grundlegenden Umwälzungen. Er sagt zunächst nichts über die politische Stoßrichtung aus.
(6) Vgl. Rifkin, Jeremy: The Third Industrial Revolution. How Lateral Power is transforming Energy, the Economy, and the World. London 2011.
(7) Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M 2006, 16. Auflage – Steinert, Heinz: Die Entdeckung der Kulturindustrie. Oder: Warum Professor Adorno Jazz-Musik nicht ausstehen konnte. Münster 2003.
(8) Fabricant, Michael: The Industrialization of Social Work Practice. Social Work 5/1985, vol. 30: 389-395.
(9) Maio, Giovanni: Ärztliche Hilfe als Geschäftsmodell. Eine Kritik der ökonomischen Überformung der Medizin. Deutsches Ärzteblatt, 109. Jg., Heft 16/2012: A 804-807.
(10) Melauwe (24.1.2014): Die Industrialisierung der Pflege. Auf https://melauwe.de/die-industrialisierung-der-pflege (abgerufen am 19.4.2022).
(11) Maio, Giovanni: Verstehen nach Schemata und Vorgaben. Zu den ethischen Grenzen einer Industrialisierung der Psychotherapie. Psychotherapeutenjournal 2/2011: 132-138.
(12) Polanyi, Karl: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Frankfurt/Main 1978.
(13) Bauer, Rudolph: Personenbezogene Soziale Dienstleistungen. Begriff, Qualität und Zukunft. Wiesbaden 2001.
(14) Maio, Giovanni: Der Arzt als Ingenieur für den Menschen. Psychologische Medizin, 24. Jg., Heft 2/2013: 37 f.
(15) Hartfiel, Günter / Hillmann, Karl-Heinz: Wörterbuch der Soziologie. 3. Aufl. Stuttgart 1982: 32 f.
(16) Gablers Wirtschaftslexikon A-BH. Wiesbaden 1993, 13. Auflage: 163.
(17) Elsner, Wolfram: Die Menschheit in der Falle einer “unmöglichen” Profitrate. Oder: “Neoliberaler” Finanzkapitalismus vs. Demokratie und weitere menschliche Entwicklung. Bergkamen 2013.
(18) Häring, Norbert: Endspiel des Kapitalismus. Wie die Konzerne die Macht übernahmen und wie wir sie zurückholen. Köln 2021.
(19) Kondratjew, Nikolai D.: Die langen Wellen der Konjunktur. Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. Band 56, 1926, S. 573–609 – Joseph A. Schumpeter, Joseph A.: Konjunkturzyklen. Eine theoretische, historische und statistische Analyse des kapitalistischen Prozesses. Göttingen 1961 – Mandel, Ernest: Die langen Wellen im Kapitalismus. Eine marxistische Erklärung. Frankfurt am Main 1987, 2. Auflage.
(20) Berliner Institut für kritische Theorie (InkriTpedia): Intensivierung/Extensivierung der Arbeit. Auf http://www.inkrit.de/e_inkritpedia/e_maincode/doku.php?id=i:intensivierung_extensivierung_der_arbeit (abgerufen am 19.4.2022).
(21) Marx, Karl / Engels, Friedrich: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Bd. I. MEW 23: 431 f.
(22) Marx, Karl / Engels, Friedrich: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Bd. III. MEW 25: 207.
(23) Vgl. zum Folgenden “Die Produktion des absoluten und des relativen Mehrwerts” in: Marx, Karl / Engels, Friedrich: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Bd. I. MEW 23: 531 ff.
(24) Marx, Karl / Engels, Friedrich: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Bd. III. MEW 25: 207.
(25) Bauer, Rudolph: Soziale Dienste in Gegenwart und Zukunft. Oppl, Hubert / Arnold Tomaschek (Hrsg.): Soziale Arbeit 2000. Band 2: Modernisierungskrise und soziale Dienste. Chancen für gesellschaftlichen Stellenwert, Profession und Ausbildung. Freiburg im Breisgau 1986: 61.
Redaktioneller Hinweis: Das Essay “Marx und der totalitäre Transhumanismus” wurde erstmals auf Die Aktion 4.0 veröffentlicht. Unter der Überschrift “Die Entfremder – Künstliche Intelligenz, Bio- und Nanotechnologie aus dem Blickwinkel von Karl Marx” erschien der erste Teil. Neue Debatte veröffentlicht den Beitrag in Rücksprache mit dem Autor in einer leicht überarbeiteten Form der ursprünglichen Fassung.

Alles beginnt mit dem ersten mutigen Schritt!
Journalismus hat eine Zukunft, wenn er radikal neu gedacht wird: Redaktion und Leserschaft verschmelzen zu einem Block – der vierten Gewalt. Alles andere ist Propaganda.
Fotos: Peter Herrmann (Unsplash.com), John Mayall jun. (gemeinfrei), Steve Jurvetson, Menlo Park, USA (Roboter Baxter; Caught Coding Uploaded by PDTillman), CC BY 2.0; und unbekannter Fotograf (gemeinfrei).
Dr. Rudolph Bauer, geboren in Amberg/Oberpfalz, studierte in München, Erlangen, Frankfurt/M. und Konstanz unter anderem Politische Wissenschaft, Soziologie und Philosophie. Er war tätig als freiberuflicher Sozialforscher und anschließend Forschungsassistent und Vertetungsprofessor an der Universität Gießen. Von 1972 bis 2002 war er Professor für Wohlfahrtspolitik und Soziale Dienstleistungen an der Universität Bremen. Arbeitsaufenthalte führten Rudolph Bauer als Lektor an das Fremdspracheninstitut in Beijing (China) sowie als Fellow ans Institute for Policy Studies der Johns Hopkins University in Baltimore (USA). Er ist Autor und Herausgeber wissenschaftlicher Veröffentlichungen, Verfasser politischer Lyrik und Bildmontagen.
Eine Antwort auf „Marx und der totalitäre Transhumanismus (Teil 1): Die Entfremdung“
„Marx und der totalitäre Transhumanismus“ – Meine Gedanken zu diesem Beitrag in der „Neuen Debatte“:
Die hochentwickelte kapitalistische Produktionsweise bringt gegenwärtig alle Menschen in die Abhängigkeit von Ware-Geld-Beziehungen. Da muß man sich fragen: „Kann man die gegenwärtige technische Revolution eine industrielle Revolution nennen, so wie man es richtig mit der um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert getan hat?
Der Computer, um es allgemein und einfach auszudrücken, findet in der ganzen Gesellschaft, in der Industrie wie im Dienstleistungsgewerbe, am Schreibtisch des Dichters und am Tisch des Schulkindes, auch in der Medizin, in einem astronomischen Turm und vielem mehr seine Anwendung. Eine solche Ausbreitung modernster Technik hat es in der ganzen Geschichte der Menschheit noch nicht gegeben. Der Computer bringt nicht eine industrielle, sondern sofort eine Lebensrevolution und löst unter anderem die Arbeiterklasse, die die Werkzeugmaschine geboren hat, wieder auf.
„Wie das“, muß man sich da fragen und darauf antworten: „Wer nicht mehr an Maschinen arbeitet, sondern mit dem Computer, ist kein Arbeiter mehr, sondern ein Angestellter, der im Gegensatz zum Arbeiter seinen geregelten 8-Stundentag im sauberen Anzug verbringt.“ Und weiter: „Bald wird es soweit sein, dass es statt einer Million Heimarbeiter von vor 200 Jahren in Europa Millionen und Abermillionen Heimangestellte geben wird, die zu Hause mit dem Computer die Fabriken in Gang halten. Wozu noch Büros haben, wenn man die Kosten der Miete den Angestellten, die zu Hause die Computer bedienen, überlassen kann?“ Die Arbeiterklasse ist in Auflösung begriffen, Auflösung in jeder Beziehung ihrer gesellschaftlichen Position, außer dass sie abhängig vom Kapital wie andere Klassen und Schichten der kapitalistischen Gesellschaft bleibt.
„Wer soll den völligen Verfall des Kapitalismus in die Barbarei aufhalten“ fragt man sich da und „wer soll den Lauf der Geschichte ändern und ihn auf eine sozialistische Gesellschaft richten? Ich glaube an den letztlich richtigen Instinkt von Arbeitern, Angestellten und Intelligenz. Es wird nahezu die ganze Gesellschaft verdammt sein, ob Arbeiter, Angestellte oder die humanitäre Intelligenz. Aber sie werden auch die Wendung bringen und uns alle vor dem Verfall in völlige Barbarei retten. Es wird das Volk sein, das eine sozialistische Gesellschaft aufbauen wird, eine Gesellschaft ohne Ausbeutung sondern in wunderbarer materieller und geistiger Blüte.“
Nicht nur die Arbeiterklasse, sondern auch die ihr scheinbar antagonistisch gegenüberstehende Bourgeoisie löst sich als eine zu charakterisierende Klasse mit gemeinsamen Interessen auf und das überall in der nunmehr global etablierten kapitalistischen Welt. Besonders deutlich zeigt sich das in den Umwälzung-Prozessen der sogenannten „Entwicklungsländer“. Diese Länder bilden eine durch die jeweiligen Bedingungen geprägte neue Art der Verelendung in nie gekanntem Ausmaß. Einerseits müssen hunderte Millionen Menschen besonders auch in vielen Kriegsregionen unglaubliches Elend und große Not ertragen. Hunger, Unwissenheit und Verzweiflung machen sie zu einer potenziellen Basis für abenteuerlichen Fanatismus und für friedensgefährdende Regimes.
Andererseits treten viele dieser Länder für eine neue internationale Wirtschaftsordnung auf der Grundlage der Gleichberechtigung ein, die sich objektiv vor allem gegen die transnationalen Konzerne und gegen das Finanzkapital in den kapitalistischen Metropolen richtet. Die sehr unterschiedlichen Lebensbedingungen und Gesellschaftsverhältnisse in den von Menschen besiedelten Regionen der Erde haben konkret unterschiedliche Notwendigkeiten und konkrete wirtschaftliche Unternehmungen. (Aus Jürgen Kuczynski: „Vom Zickzack der Geschichte: Aufstieg, Untergang und Wiederkehr neuer Gesellschaftsordnungen“ – Neue Kleine Bibliothek)