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Die Minderheit und ihre freie Welt

So trivial es klingt, wer sich auf eine Sache konzentriert, bekommt von anderen Begebenheiten weniger, wenn nicht gar nichts mehr mit.

Einer der Effekte, die entstehen, wenn der Fokus exklusiv auf ein Ereignis gerichtet ist, kann mit der Ausblendung alles anderen beschrieben werden. So trivial es klingt, wer sich auf eine Sache konzentriert, bekommt von anderen Begebenheiten weniger, wenn nicht gar nichts mehr mit.

Böse Stimmen behaupten, das sei sogar so geplant, wenn wir die Publizistik beobachten. Die gebärdet sich seit Beginn 2020 monothematisch. Zuerst Corona und seit 2022 der Russland-Ukraine-Krieg.

Nicht, dass beides nicht eine große Aufmerksamkeit verdiente. Doch für eine Gesellschaft, die sowieso seit jeher dazu tendiert, sich als den repräsentativen Mittelpunkt des Weltgeschehens zu betrachten, ist diese Steigerung fatal. Denn, und diese Erkenntnis ist unumstößlich, der Blick auf das reale Weltgeschehen in seinen tatsächlich messbaren Proportionen ist, wenn er je existierte, komplett verloren gegangen. Das betrifft den Westen allgemein wie die Bundesrepublik Deutschland besonders.

Die Minderheit und ihre freie Welt

Es reicht, nur die eine oder andere kleine Meldung aus den Nachrichtentickern zu fischen oder, noch besser, Kontakte in andere Teile der Welt zu haben und zu pflegen, um Perspektiven kennenzulernen und Informationen zu erhalten, die alles, was sich hier im großen Nachrichtensturm über die lokale Wahrnehmung ausbreitet, als eine ziemlich verzerrte, die Dinge auf den Kopf stellende Rezeption verorten.

Die immer wieder reklamierte freie Welt, von der suggeriert wird, sie dominiere den Planeten, entpuppt sich bei genauerem Hinschauen als eine Minderheit. Das betrifft sowohl die Resolutionen gegen die russische Invasion in der Ukraine wie die Beteiligung an den Sanktionen gegen Russland. Bei Letzteren beteiligen sich Staaten, die ein Achtel der Weltbevölkerung repräsentieren. Die sind ökonomisch sehr stark, aber von der Repräsentanz her eine Minderheit.

Genau diese Tatsache wird systematisch ausgeblendet, um ein Gefühl der Überlegenheit zu erzeugen, aus dem heraus andere Schlüsse gezogen werden als aus dem der Unterlegenheit.

Es ist die Wahrnehmung, die das Agieren des Westens seit dem Ende des Kalten Krieges auszeichnet. Triumphalismus statt realistischem Blick, Militanz statt Kooperation. Kaum erforderlich zu erwähnen, dass die Reaktion auf ein mit Sicherheit prognostizierbares unfriedliches Ende als Argument dafür genommen wird, lange Zeit zu friedliebend und leichtgläubig gewesen zu sein, so ganz nach dem Motto: Hätte ich viel früher geklaut, wäre ich heute erheblich reicher.

Ein Hinweis auf die Psychologie möge auch denen helfen, die sich noch auf ihre eigene Urteilskraft verlassen. Wenn man einem Unterlegenen über Jahrzehnte nach dessen Niederlage immer wieder signalisiert, seine Sichtweise und seine Bedürfnisse seien unerheblich, er solle sich den Gegebenheiten, so wie sie der Sieger bestimmt, gefälligst fügen, welche Reaktion ist die wahrscheinlichste, wenn dieser die Wunden geleckt und wieder zu Kräften gekommen ist?

2000 Light Years from Home

Um zum Ausgangspunkt der Überlegung zurückzukommen: Ist es ein Zufall, dass genau das Achtel der Weltbevölkerung, das unserem politisch-kulturellen Weltbild nahekommt, im Großen und Ganzen dem Ensemble des Kolonialismus und Imperialismus entspricht, das mit Ausnahme Russlands, selbst immer zur imperialistischen Welt gehörend, den Rest der Welt auf die eine oder andere Weise vereinnahmt, ausgeplündert, entmündigt hat?

Unter diesem Aspekt wird es besonders interessant zu sehen, was China, Indien, Indonesien, aber auch die Länder Südamerikas denken, wenn sie den Konflikt im Herzen Europas betrachten. Anteilnahme ist nicht zu erwarten, ebenso wenig eine aktive Parteiergreifung.

Und liest man die Journale in diesen Teilen der Welt, so mehren sich die Stimmen, die von der Notwendigkeit einer neuen Weltordnung sprechen, in der die imperialistischen Hähne möglichst wenig Schaden anrichten können. Eine Realität, die von unserer täglichen Wahrnehmung jene berühmten “2000 Light Years from Home” liegt!


Quellen und Anmerkungen

(1) Der Song “2000 Light Years from Home” wurde 1967 von der britischen Rockgruppe “The Rolling Stones” auf dem Album “Their Satanic Majesties Request” veröffentlicht. Der Song, der von Mick Jagger und Keith Richards geschrieben wurde, erschien auch als B-Seite der amerikanischen Single “She’s a Rainbow”.


Ein ruhender Mensch auf einem weißen Bett. (Foto: Ahmet Ali Agir, Unsplash.com)

Alles beginnt mit dem ersten mutigen Schritt!

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Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Eine Antwort auf „Die Minderheit und ihre freie Welt“

Hier meine Gedanken beim lesen des Textes “Die Minderheit und ihre freie Welt” von der “Neuen Debatte” und Gerhard Mersmann:

Wie schwer es ist, sich auf die Suche nach der Wahrheit zu begeben und nach ihr zu fragen, um die rechten Antworten zu finden, zeigt Friedrich Schorlemmer, Prediger an der Schlosskirche zu Wittenberg, in seiner Meditation „Über den Mut einander die unzumutbaren Wahrheiten zuzumuten“, vorgetragen auf der Ökumenischen Versammlung für „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“, Dresden, 13. Februar 1988

„Aus Liebe zum Leben, aus Sorge um das Leben, aus Verantwortung für das sind wir hier. Wie sieht diese Welt aus, was ist aus diesem Land geworden – und was wird, wenn es so weitergeht“, fragt Schorlemmer zu Beginn und sagt weiter, „so offen und so ehrlich uns das möglich ist, versuchen wir Rechenschaft zu geben von unserer Ratlosigkeit und Mitschuld, von unserer Hoffnung und unserer Verantwortung.“
Es sei wahr, was Bertold Brecht schrieb: „Die Wälder wachsen noch. Die Äcker tragen noch. Die Städte stehen noch. Die Menschen atmen noch.“ Und der Prediger fragt weiter: „Noch. Wie lange noch? Tiefer Weltzweifel greift um sich, krallt sich in uns hinein. Zahlen, Daten, Bilder des Verderbens fallen in die Tiefe unserer Seele. Manche sind schon in Verzweiflung versunken. Andere sagen: Um diese Welt geht es nicht. Sie vergeht.
Zu viele übersehen, was sie sehen, überhören, was sie hören. Sie verdrängen die bedrängenden Daten, um zu überleben. Ein wenig, solange es eben geht, nehmen sie, nehmen wir teil an den Segnungen des Lebens.“ Sie lebten doch noch, es gehe ihnen noch gut, es gehe ihnen noch besser, es könne ihnen noch besser gehen
„… Indes“, muss Friedrich Schorlemmer nun feststellen, „der Wettlauf zwischen kriegerischer und friedlicher, zwischen sehr plötzlicher und ganz allmählicher Selbstzerstörung wird weiter südlich durch Verhungern vorzeitig entschieden.
Was für uns Gefahr, ist für Millionen schon Realität: elendes Verlöschen. Die Schöpfung ist vermessen, das Maß ist verloren, das Tempo überschritten – nun drängt die Zeit. Sie wird zur Frist. Der Überfluss produziert den Mangel. Das Wachstum wuchert, und die Wüsten wachsen. Der Lebenshunger ist geworden zur Verbrauchergier. Das Sicherheitsbedürfnis schafft sich das Zerstörungspotential. Aus Angst wird Angst gemacht.“
Unruhe mache sich breit. Sie sei zur Bewegung geworden. Die Überlebenssorge habe zu mutigem Umdenken geführt. Aber man dürfe es nicht verschweigen: „Die Überlebensvernunft, kaum hat sie einen schmalen Streifen Zukunft in die düstere Gegenwart geschoben, gerät sie schon wieder unter die Räder der Systemzwänge.“ Das „neue Denken“, kaum habe es sich in einigen Köpfen eine Hoffnungsbahn gebrochen, finde das lösende Wort, den ersten öffnenden Schritt, schon verstricke es sich wieder, werde verstrickt in die Eigengesetzlichkeit der Apparate. (Schorlemmer – „Träume und Alpträume“ Knaur München 1993)

Es war die DDR Gesellschaft aus der kommend Friedrich Schorlemmer Fragen stellte und nach Antworten suchte. In der Tiefe Zusammenhänge suchend, hat er Probleme des Weltganzen gesehen. Der Zusammenbruch des sozialistischen Weltsystems, das Zusammenfügen zweier nach dem zweiten Weltkrieg entstandenen deutschen Staaten hat nicht ein einziges der aufgezeigten Probleme gelöst, ja noch nicht einmal Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt.

Die Weltprobleme spitzen sich täglich zu. Die Bestätigung dafür findet man in den Krisen der globalisierten Welt. Erstens ist ein stetiges, kontinuierliches und nur geldwertes Wirtschaftswachstum kontraproduktiv. Zweitens muss das bisherige System der Finanz- und Wirtschaftsregulierung Konkurs anmelden. Drittens haben sich die sozialreformistischen Theorien von der Wandlung des Kapitalismus in eine neue, durch soziale Sicherheit für alle und soziale Harmonie gekennzeichnete Gesellschaft (Wohlfahrtsstaat, Sozialstaat, Industriegesellschaft) in Nacht und Nebel aufgelöst. Viertens kann soziale Sicherheit für alle nicht mehr mittels Reformen und ausgewogener Sozialpolitik hergestellt werden. Und fünftens sind entscheidende geistige und moralische Vorstellungen über die freie Entwicklung der Persönlichkeit, besonders der Jugend, zusammengebrochen.

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