Der in London lebende Autor Jörg Kronauer hat sich bereits durch mehrere Publikationen, in denen er die sich verändernde geostrategische Weltlage unter die Lupe nahm, einen Namen gemacht.
Sein neuestes Buch mit dem Titel “Der Aufmarsch – Vorgeschichte zum Krieg. Russland, China und der Westen” ist nicht nur wegen der darin dargestellten Entwicklung lesenswert, sondern auch durch die historisch einzigartige Tatsache, dass der Text bereits beim Verlag war, als der Autor wie der Rest der Welt vom Einmarsch der russischen Streitkräfte am 24. Februar 2022 in die Ukraine erfuhr.
Dieses Faktum setzt den zu erwartenden Vorwurf außer Kraft, da würde im Nachhinein für das Verständnis von etwas geworben, für das es kein Verständnis geben sollte, es sei denn, man hat die gesamte Entwicklung im Blick.
Der Ansatz Kronauers ist einfach und transparent. Er hat nichts anderes getan, als sich die Politik der einstigen Parteien des Kalten Krieges nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion angesehen und minutiös alles beschrieben, was an fortgesetzter oder erneuter Polarisierung stattgefunden hat: Ein innerer Blick in die nach-sowjetische Realität, in der sich mit Mafia-Methoden kämpfende Oligarchen das Staatseigentum aufteilten, während die Bevölkerung hungerte, die Nachfolge des schwachen Boris Jelzin (1) durch Wladimir Putin, der dem Wild-West-Kapitalismus Einhalt bot und eine neue, alles andere als demokratische Ordnung herstellte. Das allmähliche Wiedererstarken der russischen Wirtschaft und die Renaissance eines imperialen Ansatzes.
Der Aufmarsch
Die gleichzeitige Osterweiterung der NATO, die vielen Mosaike, die auf eine mögliche militärische Eskalation hindeuten. Die Warnungen Russlands, die Ignorierung durch vor allem die Vereinigten Staaten. Der ganze Prozess von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. Und die Überschreitung von Russlands roter Linie in der Ukraine, durch die letztendlich auch eine kulturelle Linie verläuft.
“Chinas Rückkehr auf die Weltbühne ist keine Rückkehr ins 20. Jahrhundert; sie ist mit einer viel weiter reichenden Umwälzung der globalen, bis heute durch die Kolonialära geprägten Verhältnisse verbunden. Auch damit hat es zu tun, dass der Machtkampf gegen China für den Westen letztlich wohl eine höhere Bedeutung als der Machtkampf gegen Russland hat. Er könnte, davor warnen nicht zuletzt US-Militärs, in einen Weltkrieg eskalieren.”
— zitiert aus:
Der Aufmarsch – Vorgeschichte zum Krieg (Einleitung)
Das alles wäre noch einmal eine Revue dessen, was aufmerksame Menschen hier in Europa ohnehin verfolgen konnten, wenn Kronauer nicht im zweiten Kapitel das Bild vervollständigen würde, indem er analoge Manöver der USA und ihrer Verbündeten auf der pazifischen Seite gegenüber China dokumentiert. Auch dort und im Einklang mit den Aktivitäten in Ost- und Zentraleuropa zeigt sich, dass eine Global-Strategie (2) in den USA vorliegt, die auf eine direkte Konfrontation mit Russland und China hinausläuft.
Auch für Militärstrategen ist es interessant zu sehen, dass es vor allem um die Vorbereitung von Blockaden von Seewegen geht, ob gegenüber Russland wie gegenüber China, beides kontinentale Mächte, die allerdings vehement geschwächt werden, wenn sie ihre maritimen Zugänge verlieren. Da rüstet eine maritime Weltmacht zum letzten Gefecht und wer will, schaut zu.
Politik und Krieg
Kronauers Buch ist eine kurze wie faltenreiche Nachzeichnung der militärpolitischen Entwicklung der letzten 30 Jahre, auch unter dem Aspekt einer neuen, multipolaren Weltordnung. Dabei verfällt er nicht gängigen Versionen der Vereinfachung, sondern beschreibt ebenso unbestechlich die Verwerfungslinien, die auch zwischen Russland und China verlaufen.
“Die politische Absicht ist der Zweck, der Krieg ist das Mittel, und niemals kann das Mittel ohne Zweck gedacht werden.”
Carl Philipp Gottfried von Clausewitz (1780 bis 1831), Generalmajor und Militärstratege.
— zitiert aus:
Vom Kriege (1. Buch, 1. Kapitel: “Über die Natur des Krieges”)
Das Bedrückende der Lektüre ist die wachsende Wahrscheinlichkeit eines Dritten Weltkrieges und die maßgebliche Rolle, die dabei die USA spielen. Aber die Realität schert sich nicht um Empfindungen. Angesichts der inflationär kursierenden und gewaltig aus dem propagandistischen Nebel geborenen Erzählungen über den Zustand der Welt ist die Lektüre dieses Buches unbedingt zu empfehlen!
Informationen zum Buch
Der Aufmarsch – Vorgeschichte zum Krieg
Russland, China und der Westen
Autor: Jörg Kronauer
Genre: Sachbuch
Sprache: Deutsch
Seiten: 207
Erscheinung: April 2022
Verlag: PapyRossa
ISBN: 978-3-89438-778-5

Über den Autor: Jörg Kronauer (Jahrgang 1968) ist Journalist und Autor mit den Schwerpunkten Neofaschismus und Internationale Politik. Er studierte Soziologie und veröffentlichte als Journalist unter anderem in junge Welt, Jungle World, konkret, Lotta und in Unsere Zeit, der Wochenzeitung der Deutschen Kommunistischen Partei. Außerdem veröffentlichte er mehrere Bücher wie zum Beispiel “Allzeit bereit. Die neue deutsche Weltpolitik und ihre Stützen” (2015), “Wir sind die Herren des Landes: Der deutsche Griff nach Griechenland – Geschichte einer Unterwerfung” (2016) und “Meinst Du, die Russen wollen Krieg? Russland, der Westen und der zweite Kalte Krieg” (2018). Beim Nachrichtenportal “German Foreign Policy – Informationen zur deutschen Außenpolitik” ist Jörg Kronauer zuständig für die Dokumentation.
Quellen und Anmerkungen
(1) Boris Nikolajewitsch Jelzin (1931 bis 2007) war von 1991 bis 1999 der erste Präsident Russlands und das erste demokratisch gewählte Staatsoberhaupt in der Geschichte des Landes. In seiner Amtszeit wurde ohne Rücksicht auf die Bevölkerung der Kapitalismus als Wirtschaftsform eingeführt, das Staatseigentum damit dem Kapitalzugriff preisgegeben und es entstand die postsowjetische Oligarchie. Am Ende seiner Regierungszeit geriet Russland in eine schwere Wirtschaftskrise. Das Bruttonationaleinkommen halbierte sich, im August 1998 war Russland zahlungsunfähig. Am 31. Dezember 1999 erklärte Jelzin, dem im Nachklang Freiheit vor Strafverfolgung garantiert wurde, seinen Rücktritt und übergab die Regierungsgeschäfte an Wladimir Putin, den damaligen Ministerpräsidenten.
(2) Full-spectrum dominance ist ein Einsatzkonzept beziehungsweise ein strategischer Ansatz der US-Streitkräfte, der von der Theorie ausgeht, dass echte militärische Überlegenheit nur durch eine die Teilstreitkräfte übergreifende gleichzeitige Kontrolle aller Einsatzebenen zu erreichen ist. Neben den klassischen drei werden auch der Weltraum, die elektromagnetische Ebene und der Informationskrieg dazugezählt.

Schluss mit dem Theater …
Karten auf den Tisch!
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Fotos und Video: Mitya Ivanov (Unsplash.com), PapyRossa Verlag und Gerhard Mersmann
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
Eine Antwort auf „Der Aufmarsch: Jenseits des propagandistischen Nebels“
Politik und Krieg: Kronauers Buch ist eine kurze wie faltenreiche Nachzeichnung der militärpolitischen Entwicklung der letzten 30 Jahre, auch unter dem Aspekt einer neuen, multipolaren Weltordnung. Dabei verfällt er nicht gängigen Versionen der Vereinfachung, sondern beschreibt ebenso unbestechlich die Verwerfungslinien, die auch zwischen Russland und China verlaufen.
Dazu meine Gedanken: Die systemimmanente Globalisierung schafft den Kapitalismus ab
Die Triebkraft der kapitalistischen Wirtschaftsweise ist das reine finanzwirtschaftliche Kalkül als das alles beherrschende Handlungsziel und nicht die in das Ökosystem Erde harmonisch eingebrachten Wirtschaftskreisläufe, in denen die lebensnotwendigen Produkte und Leistungen für die Menschen hergestellt und erbracht werden. Objektive Gesetzmäßigkeiten, wie die für die kapitalistische Produktionsweise existenziell notwendige erweiterte Reproduktion des Produktionsprozesses oder der tendenzielle Fall der Profitrate, führen die kapitalistische Wirtschaftsweise unaufhaltsam zum Konkurs.
Die mit dem technologischen Fortschritt tendenziell sinkende Profitrate ist ein Grund, warum die Wirtschaft immer weiter wachsen muss. Täte sie dies nicht, würde, global gesehen, die Profitrate so stark fallen, dass der Kapitalismus zusammenbräche. Das produziert Krisen. Kapitalanlagen werden schleichend immer unrentabler, Spekulationen blühen. Um Kapitalisten doch noch zum Investieren zu ermuntern, muss billiges Geld auf den Markt. Darum senken derzeit die Zentralbanken ihre Leitzinsen immer tiefer in den Keller.
In diesem System wachsen die Staaten zusammen mit ihrer Wirtschaft. So bilden sich Imperien heraus, die, ganz nach kapitalistischer Logik, wachsen und stärker werden wollen. Sie beuten andere Länder aus. Dort wächst die Armut, auf der Suche nach Perspektiven flüchten Menschen. Irgendwann gehören alle Ressourcen irgendwem. Wirtschafts- und Handelskriege, Verteilungskämpfe also, sind die Folge.