Vor einigen Tagen las ich einen Artikel einer Ukrainerin, den sie damit begann, die allgegenwärtigen ukrainischen Farben im deutschen Alltagsleben nicht mehr ertragen zu können. Sie erklärte es auch. Die Lage in ihrem Land, unter der sie selbst auch familiär leidet, ist komplexer, als das in Deutschland massenhaft publizierte Bild vermuten lässt.
Sie wies auf vieles hin, was bei der Berichterstattung in Deutschland keinen Eingang findet: Die Fragwürdigkeit der Regierung Selenskyj, deren brutales Vorgehen gegen die russische Bevölkerung im Donbas, die momentane Hochrüstung rechtsradikaler Verbände, die Herausbildung von Berufssoldaten, die sich in keinem zivilen Leben mehr werden einfügen können, die unbegrenzte Verfügbarkeit von Waffen, die schon vor der russischen Aggression bedenkliche Beeinflussbarkeit der Justiz, Methoden der Folter auf ukrainischer Seite – das alles seien Faktoren, die zu berücksichtigen seien, wenn es um eine wie auch immer geartete Zukunft des Landes ginge.
Den Überfall Russlands beschönigte sie indessen nicht, sie machte sich nur, quasi als Gegenzeichnung zu einem hier vermittelten Bild, bei dem zunehmend auch von der Möglichkeit eines “Sieges” (1, 2, 3, 4), gesprochen werde, was sie für eine gefährliche Wahnvorstellung hielt, Gedanken über eine mögliche Zukunft. Die, so schloss sie, sei mit der im Westen produzierten Darstellung der Verhältnisse ausgeschlossen.
Keine Partys, keine Feste
Es ist nicht nur das Thema Ukraine, das mich dabei inspirierte, sondern die Fähigkeit der Deutschen, in kurzer Zeit und auf große Distanz gleich im Bilde darüber zu sein, was in anderen Ländern und Kulturen geschieht.
Das brachte einmal ein sein ganzes Leben für die Bundesrepublik in allen möglichen Ländern unterwegs gewesener technischer Berater auf den Punkt, den ich fragte, wie nach all den Jahren, die er in fremden Ländern gelebt habe, sein Verhältnis zu Deutschland sei. Es sei, so antwortete er ohne zu zögern, ein schönes, wohl organisiertes Land, in dem sich gut leben ließe. Nur eines täte er, wenn er hier sei, nicht mehr: Er ginge auf keine Partys oder Feste mehr. Denn dort, wenn er gefragt würde, wo er gerade lebe und arbeite, fänden sich immer gleich einige, die ihm nach einem zweiwöchigen Urlaub in dem betreffenden Land alles erklären könnten und ihm noch Tipps gäben, wie er am besten seinen Job mache. Das sei für ihn kaum zu ertragen.
Ich selbst kenne dieses Phänomen auch und wir alle haben es in den letzten beiden großen Krisen erlebt. Bei Corona mutierte das Volk in Sekundenschnelle zu medizinischem Fachpersonal und seit dem Ukraine-Krieg sind alle versierte Politologen mit dem Schwerpunkt Osteuropa.
Verdrängung und Übersprunghandlung
Positiv betrachtet, handelt es sich dabei um ein großes Interesse zu den Fragen der Zeit. Was nachdenklich stimmt, ist diese unheimliche Fähigkeit, mit geringem Aufwand eine Expertise zu erreichen, für die andere Menschen ein ganzes Leben brauchen.
Aber vielleicht verbirgt sich dahinter etwas ganz anderes. Wer sich schnell auf etwas fokussiert, das außerhalb der eigenen Problemlagen stattfindet, kann besagte kritische Felder wunderbar ausblenden. Psychisch kann auf dem Alibi-Feld alles ausgetragen werden, was emotional herausmuss, und trotzdem bleibt die Arbeit an den eigenen Defiziten erspart. In der Psychologie korrespondieren mit diesen Verhaltensweisen die Begriffe der Verdrängung und der Übersprunghandlung (5).
Das Fazit der Betrachtung ist der wenig emphatische Schluss, dass es sich bei der Schlaumeierei gegenüber fremden Angelegenheiten um den Versuch handelt, die eigene Unzulänglichkeit auszublenden. Glücklicherweise gibt es dazu eine Formulierung, die gute Freunde benutzen, wenn sich auf ein solches Phänomen stoßen. Sie lautet: Wir müssen reden!
Quellen und Anmerkungen
(1) Welt (25.4.2022): “Die Ukrainer können gewinnen, wenn sie die richtige Ausrüstung haben”. Auf https://www.welt.de/politik/ausland/article238356753/Ukraine-kann-Krieg-laut-US-Verteidigungsminister-gewinnen.html (abgerufen am 9.5.2022).
(2) ZDF (5.5.2022): SPD-Außenpolitiker Roth: Ukraine kann diesen Krieg gewinnen. Auf https://www.zdf.de/nachrichten/politik/roth-oel-embargo-ukraine-krieg-russland-102.html (abgerufen am 9.5.2022).
(3) ntv (7.5.2022): Das neue Kriegsziel heißt “Sieg der Ukraine”. Auf https://www.n-tv.de/politik/Das-neue-Kriegsziel-heisst-Sieg-der-Ukraine-article23316842.html (abgerufen am 9.5.2022).
(4) Frankfurter Rundschau (9.5.2022): Wie die Ukraine den Krieg gewinnen könnte: Experte schlägt Strategie vor. Auf https://www.fr.de/politik/militaer-nato-ukraine-krieg-russland-streitkraefte-kiew-zr-91528497.html (abgerufen am 9.5.2022).
(5) Der Fachausdruck Übersprunghandlung (auch: Übersprungbewegung oder Übersprungverhalten) findet Anwendung in der klassischen vergleichenden Verhaltensforschung (Ethologie). Er bezeichnet bestimmte Verhaltensmuster, die vom Beobachter als “unerwartet” empfunden werden, da sie innerhalb einer Verhaltensabfolge auftreten, in der sie keinem unmittelbaren Zweck zu dienen scheinen.

Alles beginnt mit dem ersten mutigen Schritt!
Journalismus hat eine Zukunft, wenn er radikal neu gedacht wird: Redaktion und Leserschaft verschmelzen zu einem Block – der vierten Gewalt. Alles andere ist Propaganda.
Foto: Etienne Girardet (Unsplash.com)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
Eine Antwort auf „Übersprunghandlung? Wir müssen reden!“
Machen wir uns da mal nichts vor..
Meistens ist es doch nur Schreibübung und das Rezensieren/Kommentieren einer “Serie” die uns tag-taglich präsentiert wird, die wir – der persönlichen Auswahl geschuldet – als würdig/wichtig genug erachtet haben. Eine gewisse Selbstgefälligkeit in der Reflektion lässt sich garnicht vermeiden. Und wir haben die Zeit – und den Abstand – den braucht. Man köntne auch von “Muße” reden.
Ich erinner mich..
Wie man mir – indigenen Ossi – in den 90ern die Würde klauen wollte (ich decodierte dass ja schon, von daher – netter Versuch). Die selbstherlrichen Attitüden, die Erfindung/Invasion der Treuhand (als “PsyOp-Waffe” eingesetzt), das Degradieren der Leute als “Human Resource” und die in (ungeübter) Notwehr sich zusammenrottenden Jugendlichen gegen das System, als Widergänger der Nazi’s defamiert/geframt. Und, und, und..
Ich habe mir, von einem “Zeitgenossen” (Domke Schulz – Link: https://veezee.tube/w/jaCvx1TSYWAcKTtjQxwW38), mal den Verlauf der Krise/Konflikt im Donbas zeigen lassen. Ich kann seinem “Blick” gut folgen und fühlte mich zurückversetzt in die DDR der 90er. Ich merkte, dass es sich um eine Transformation handeln wird, die bei “uns” längst Geschichte ist. Ich hatte einen echten Schmerz bei manchen Szenen und den gezeigten Krawallen/Übergriffen. Nicht wegen der Gewalt – der Oberfläche für Empörte(!) – sondern wegen der Ohnmacht die sich da zeigt – dort wird es nie einen Sieg geben, für Keinen, selbst wenn man sich irgendwie einigt. Die Leute werden einfach verstummen mit der Zeit. Mit Chips und Drogen vor ihren Endgeräten vertrocknen.
Naja..
Ich bin wohl doch Zyniker geworden – aber nicht nur. ;*)
-sven-